Unsere bescheidene Zeitenwende

Zum Jahreswechsel eine Betrachtung von Josef Arquer

Am ersten Tag des neuen Jahres, eine Woche nach Weihnachten, feiern wir liturgisch das "Hochfest der Gottesmutter Maria". In ihrem Schoß hatte sich in der "Fülle der Zeit", die Zeitenwende vollzogen. Auch unsere Zeitrechnung registriert dies: Christi Geburt ist die Mitte, die Jahren werden ante Christum natum und post Christum natum bezeichnet.

Deshalb liegt es nahe, dass eine Woche nach dem Fest der Geburt Jesu die Mutter in die Mitte rückt. Nun legt sie uns das Kind in die Arme, das wir zusammen mit den Engeln und den Hirten in der Krippe verehrt haben. Wir lassen uns Zeit für persönliche Empfindungen, und unser Anbeten gewinnt fast einen mystischen Zug. Der Dichter Paul Gerhardt empfand es so:

Ich sehe dich mit Freuden an

und kann mich nicht satt sehen;

und weil ich nun nichts weiter kann,

bleib ich anbetend stehen.

O daß mein Sinn ein Abgrund wär

und meine Seel ein weites Meer,

daß ich dich möchte fassen!

Aber weshalb wird der letzte Tag des Jahres allgemein "Sylvester" genannt? Auch wenn der Grund eher zufällig ist (Papst Sylvester I. starb am letzten Tag des Jahres 335), hat es auch seinen Sinn, dass wir ihn mit unserer bescheidenen Zeitenwende vom alten zum neuen Jahr in Zusammenhang bringen. Denn dieser heilige Papst und Zeitgenosse Kaiser Konstantins hat eine wirkliche Wende erlebt. Als er im Jahre 314 als 34. Nachfolger den römischen Stuhl des Apostels Petrus übernahm, war das sogenannte Toleranzedikt von Mailand erst ein Jahr alt. Jetzt durften die Christen endlich in Frieden und ohne Verfolgung leben. Als Papst einer Zeitenwende von universaler Bedeutung ist der heilige Sylvester damit gleichsam der Patron unserer bescheiden wiederkehrenden Jahreswenden geworden.

Umgang mit der Zeit

Unsere Tage zählen lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz (Psalm 90, 12). Worin diese Weisheit besteht, lehrt uns der Herr besonders in der Bergpredigt, wenn er über die väterliche Vorsehung Gottes spricht: Euer himmlischer Vater weiß ja ... (vgl. Mt 6,32). Er rät, gelassen und als Kinder Gottes sorglos zu werden.

So manches von dieser Weisheit spüren wir bei den Heiligen, die wie unberührt vom jeweiligen Zeitgeist wirken. Denn sie erfahren in ihrem Innern, dass die Zeit aus einer Quelle strömt, die seit der Menschwerdung des ewigen Gottes in unserer Geschichte selbst liegt.

Wie anders die Einstellung jener, die um jeden Preis mit der Zeit gehen und Zeitgemäßheit zum allseits gültigen Prinzip erheben wollen. Ihnen kann man mit der Schrift raten: Wer ständig nach dem Wind schaut, kommt nicht zum Säen, wer ständig die Wolken beobachtet, kommt nicht zum Ernten (Kohelet 11,4).

Bei unserer bescheidenen Zeitenwende können wir bedenken, dass der richtige Umgang mit der Zeit die Absage an jede Ablenkung erfordert, die die Gegenwart verfremdet. "Wie traurig eine Existenz, die keine anderen Sorgen kennt als das Totschlagen der Zeit, das Verschleudern eines gottgeschenkten Schatzes! ... Wie traurig, wenn einer die vielen oder wenigen Fähigkeiten brachliegen läßt, die Gott ihm gegeben hat, damit er den Menschen und der Gesellschaft diene! Ein Christ, der seine irdische Zeit totschlägt, läuft Gefahr, seinen Himmel totzuschlagen, dann nämlich, wenn er sich aus Egoismus zurückzieht, sich versteckt, gleichgültig bleibt. (Josemaria Escrivá, Freunde Gottes, Nr. 46)

Heute, jetzt

Unsere Aufmerksamkeit soll sich auf die Aufgabe des Augenblicks richten, mit Gespür für das hodie et nunc – das Heute, ja das Jetzt. Dagegen sind die nostalgische Verherrlichung des Vergangenen wie das Beschwören der Zukunft im Wunschdenken nur Spielarten einer Flucht vor dem Heute und erschweren die Begegnung mit der Realität.

Gott schenkt uns die Zeit als Gegenwart, als ein Heute – er wird sie uns weiter schenken, Stunde für Stunde, solange er will. Die Vergangenheit bleibt im gewissen Sinne gegenwärtig als Erinnerung – an Fehler, die wir vor Gott bereuen, an Wohltaten, die uns zum Dank bewegen, an Verhalten, die uns reicher an Erfahrung machen. Die Zukunft steht vor uns als Ansporn für unsere Hoffnung und unser Gottvertrauen. Aber unser Leben ist Gegenwart – Augenblick für Augenblick. Nur sie können wir heiligen.

Das Ernstnehmen des Heute befreit von überflüssigen Zukunftssorgen. Wer sich denkbare Unglücke und Heimsuchungen ausmalt, lädt sich leicht drückende Lasten auf. Denn Gott schenkt seine Gnade zur Bewältigung von Prüfungen, die er selbst uns sendet – aber nicht von Desastern, die nur in unserer Phantasie existieren. Die Sorgen der konkreten Gegenwart sehen wir im Licht der Hoffnung, im Vertrauen auf seine göttliche Fürsorge. Und die anderen Sorgen, die nicht selten nur eingebildet sind, erkennen wir als lähmende Versuchungen.

So schrieb der Dichter und Dramatiker Andreas Gryphius im 17. Jahrhundert:

Mein sind die Jahre nicht,

die mir die Zeit genommen.

Mein sind die Jahre nicht,

die etwa möchten kommen.

Der Augenblick ist mein,

und nehm ich den in Acht,

so ist der mein,

der Jahr und Ewigkeit gemacht.