Ihn erkennen und dich erkennen (II): Aus dem Munde Jesu

In diesem zweiten Artikel schauen wir im Gebet besonders auf Gott, der dem Menschen begegnet und sein Herz dahin führt, in Beziehung zu ihm zu treten und zu begreifen, dass er Gottes geliebtes Kind ist.

Die ersten Jünger Jesu waren fasziniert von ihrem Meister und begeisterten sich für ihn; denn er lehrte mit Autorität, die bösen Geister unterwarfen sich Ihm, er erklärte, dass er die Vollmacht hatte, Sünden zu vergeben und er wirkte Wunder, sodass sie nicht zweifelten. Ein so außergewöhnlicher Mann musste ein Geheimnis haben. Eines frühen Morgens, kurz vor Beginn eines neuen, anstrengenden Tages, finden die Jünger Jesus nicht. Besorgt verlassen sie das Haus und suchen ihn in der kleinen Stadt Kapharnaum. Sie entdecken ihn schließlich, wie er an einem Hang mit Blick zum See sitzt und betet (vgl. Mk 1, 35).

Der Evangelist vermittelt uns den Eindruck, als verstünden die Jünger im ersten Moment nicht, was er tat; später merkten sie, dass es sich nicht um eine vereinzelte Episode handelte. Das Gebet war fester Bestandteil im Leben des Meisters, genauso wie das Predigen, die Sorge um die Nöte der Menschen und die Erholung. Aber während ihnen alle seine Handlungen verständlich und sogar bewundernswert erschienen, faszinierten sie diese Zeiten der Stille besonders, auch wenn sie sie nicht verstanden. Erst als sie schon einige Zeit mit dem Meister zusammen waren, wagten sie es, ihn zu bitten: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seines Jünger beten gelehrt hat!“ (Lk 11, 1).

Non multa…

Wir kennen die Antwort Jesu auf diese Bitte: Er lehrt sie das Vaterunser. Man könnte vielleicht denken, die Jünger seien enttäuscht gewesen – nur so wenige Worte? Die betete er stundenlang? Wiederholte Er denn immer dasselbe? Möglicherweise kam es ihnen wenig vor, sie hätten gerne mehr erfahren. In dieser Hinsicht kann uns der Evangelist Matthäus - im Unterschied zu Lukas – etwas mehr sagen; denn er berichtet vom Gebet des Vaterunser in Zusammenhang mit der Bergpredigt. Dabei erklärte Christus die wichtigsten Voraussetzungen für das Gebet, für den Umgang mit Gott. Welche sind diese Voraussetzungen?

Lauterkeit der Absicht, Vertrauen und Einfachheit sind drei Bedingungen, um sich an Gott zu wenden

Die erste ist die Lauterkeit der Absicht: Wenn wir uns an Gott wenden, dann um seinetwillen, nicht aus anderen Gründen, vor allem nicht, um gesehen zu werden oder um eine Frömmigkeit zur Schau zu stellen, die nicht echt ist (vgl. Mt 6, 5). Gott ist Person und darf nicht instrumentalisiert werden. Alles, was wir haben, hat er uns geschenkt. Wir leben aus Seiner Liebe, er hat uns zu Seinen Kindern gemacht, er kümmert sich liebevoll um uns und hat sein Leben hingegeben, um uns zu erlösen. Er verdient unsere Liebe nicht nur – und auch nicht hauptsächlich – weil Er uns Dinge geben kann. Er verdient sie…, weil er es ist! Als der heilige Johannes Paul II. noch Bischof von Krakau war, fragte er junge Leute: „Warum beten alle Menschen (Christen, Muslime, Buddhisten, Heiden)? Warum beten selbst die, die meinen, es nicht zu tun? Die Antwort ist ganz einfach: Ich bete, weil Gott da ist. Ich weiß, dass Er da ist. Deshalb bete ich“[1].

Die zweite Voraussetzung ist Vertrauen: Wir wenden uns an unseren Vater, Abbá. Gott ist kein fernes Wesen und weniger noch ein Feind des Menschen, den man zufriedenstellen müsste, indem man seinen Zorn oder seine Forderungen ständig zu besänftigen hätte. Er ist vielmehr ein Vater, der sich um Seine Kinder kümmert, der weiß, was sie brauchen und ihnen gibt, was für sie gut ist (vgl. Mt 6, 8), dessen „Freude es ist, bei den Menschen zu sein“ (vgl. Spr 8, 31).

So versteht man besser die dritte Voraussetzung für das Gebet, die auch das Vaterunser einleitet, nämlich: nicht zu viele Worte machen (vgl. Mt 6, 7). Papst Franziskus sagt uns: „Wie schön ist es, vor einem Kreuz zu stehen oder vor dem Allerheiligsten zu knien und einfach vor seinen Augen da zu sein!“[2] Zu viele Worte können uns verwirren und ablenken. Anstatt auf Gott zu schauen und in seiner Liebe zu ruhen, laufen wir dann Gefahr, von unseren Bedürfnissen eingefangen zu werden, von Ängsten oder Plänen. Dann wären wir wieder innerlich verschlossen, und das Gebet würde uns nicht Gott und seiner umwandelnden Liebe öffnen.

Ein lateinisches Sprichwort lautet: non multa, sed multum[3]. Der heilige Josefmaria wandte es auf die Art und Weise zu studieren an, da es uns daran erinnert, uns nicht in vielen Dingen zu verzetteln – non multa -, sondern das Wesentliche zu vertiefen – sed multum. Dieser Rat hilft auch, die Lehre Jesu über das Gebet zu verstehen. Das Vaterunser ist wegen seiner Kürze nicht enttäuschend, sondern es offenbart uns, wie wir zu einer echten Verbindung mit Gott kommen können.

… sed multum

„Am Abend deines Lebens wird deine Liebe geprüft. Lerne Gott so zu lieben, wie er geliebt werden möchte und ändere dich“[4]. Diese Worte des heiligen Johannes vom Kreuz erinnern uns daran, dass lieben bedeutet, sich dem anderen zu schenken, seine Wünsche zu erraten und gerne zu erfüllen, zu erfahren – manchmal unter Schmerzen -, dass die gute Absicht allein nicht genügt, sondern dass man lernen muss, das Richtige zu tun.

Beten lernen ist nicht in erster Linie eine Frage der Technik oder der Methode

Und woher wissen wir, ob wir Gott richtig lieben? Woher wissen wir, was er möchte? Das Buch Hiob stellt uns diese Schwierigkeit vor Augen, wenn es am Ende ganz demütig heißt: „Ich will dich fragen, du belehre mich“ (Ijob 42, 4). Es ist dieselbe Bitte, die die Jünger Jahrhunderte später an Jesus richteten: „Lehre uns beten“. Beten lernen ist also nicht in erster Linie eine Frage der Technik oder der Methode. Es ist vor allem Offenheit für Gott, der uns sein wahres Antlitz gezeigt und uns sein Herz geöffnet hat. Nur in dem Wissen, was im Herzen Gottes ist, können wir wirklich beten und ihn so lieben, wie er geliebt werden möchte. Im Licht dieser Erkenntnis können wir die Grundhaltung für unser Beten verändern und lernen, besser zu beten.

Das Vaterunser verkörpert die Botschaft Christi, es zeigt, wie wir in Einklang mit dem Herzens des Vaters kommen können. Daher spricht man vom performativen Charakter dieses Gebetes, denn es enthält Worte, die in uns vollziehen, was sie bedeuten, die uns umwandeln. Es sind nicht bloß Worte zum Wiederholen, sondern sie wollen unser Herz formen, sodass es fähig wird, mit dem Herzschlag der Liebe eins zu werden, der unserem himmlischen Vater gefällt.

Wenn wir Vater und unser sagen, dann befinden wir uns existentiell in der Bezeihung, die unser Leben prägt. Dein Wille geschehe hilft mir, die Pläne Gottes zu lieben, und bei vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern denke ich daran, dass ich barmherzig sein soll mit den anderen. „Die Worte belehren uns und helfen zu verstehen, was wir wünschen und erbitten sollen, und zwar nicht so, als würden wir mit ihnen den Herrn von dem überzeugen, worum wir bitten“[5]. Mit diesem Gebet wenden wir uns an den Herrn und bitten um das wirklich Wichtige.

Wir können die verschiedenen Bitten des Vaterunser vielleicht mithilfe eines der alten Kommentare betrachten – mit dem des hl. Cyprian oder dem des hl. Thomas[6] - oder eines neueren wie dem des Katechismus der katholischen Kirche. Das kann uns helfen, unser Gebetsleben zu erneuern und so die Liebesgeschichte unseres Lebens intensiver zu erleben.

Mit inspirierten Worten

Als die Jünger Zeugen des Gebetes Jesu wurden, sahen sie auch, dass Er sich häufig mit Worten aus den Psalmen an seinen Vater wandte. So hatte er es wahrscheinlich von seiner Mutter und dem heiligen Josef gelernt. Die Psalmen gaben seinem Gebet Nahrung bis hin zum erhabenen Augenblick seines Kreuzesopfers: „Elí, Elí, lamma sabachtani?“ heißt es im ersten Vers des Psalms 22 auf Aramäisch, so wie Jesus sie in dem Moment aussprach, als sich unsere Erlösung vollzog. Matthäus schreibt auch: „Nach dem Lobgesang gingen sie zum Ölberg hinaus“ (Mt 26, 30). Welche Lobgesänge waren das, die Christus selbst betete?

Während des Passahmahls tranken die Juden vier Gläser Wein, die die vier Versprechen Gottes an sein Volk symbolisierten, als sie aus Ägypten befreit wurden: „Ich führe euch heraus“, „ich rette euch“, „ich erlöse euch“ und „nehme euch an“ (Ex 6, 6-7). Sie wurden in vier unterschiedlichen Momenten während des Mahls getrunken. Zugleich sangen sie die Hymnen des Hallel, die so hießen, weil sie mit dem Wort „hallel“ (Halleluja)[7] anfingen. Mit Sicherheit betete Jesus sie alle voller Dankbarkeit und pries Gott, seinen Vater, als wahrer Israelit, der sich bewusst war, dass diese Gebete inspiriert waren. In ihnen verdichtete sich die Liebesgeschichte Gottes mit Seinem Volk wie auch die Haltung des Menschen vor dem heiligen Gott: Lobpreis, Anbetung, Bittgebet, Sühne…

Es ist nicht verwunderlich, dass die ersten Christen so beteten wie Jesus, was sich im Rat des heiligen Paulus spiegelt: „Lasst in eurer Mitte Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder erklingen, singt und jubelt aus vollem Herzen dem Herrn! Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles im Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (Eph 5, 19-20). Wie das Gebet des Vaterunser so prägten auch die Psalmen ihre Herzen, öffneten sie einer echten Beziehung zu Gott. Verwundert und dankbar entdeckten sie, wie diese Verse immer das Leben Christi vorausgedeutet hatten. Und vor allem begriffen sie, dass sein wahrhaft menschliches Herz sich die Worte der Psalmen, die Lobgesänge und Bitten, wie kein anderes zueigen gemacht hatte. „Da die Psalmen in Christus gebetet und erfüllt werden, gehören sie wesentlich und bleibend zum Gebet der Kirche. Sie entsprechen den Menschen aller Stände und Zeiten“[8]. Auch wir finden in ihnen „feste Nahrung“ (vgl. Hebr 5, 14) für unser Gebet.

Und nicht nur die Psalmen. Zu ihnen gesellten sich sogleich verschiedene Kompositionen – „Hymnen und geistliche Lieder“ – um den dreimal heiligen Gott zu loben, der sich ihnen als Einheit der Personen, des Vaters, des Sohnes und des Geistes, offenbart hatte. Das war der Beginn der Ausarbeitung der Gebete, die in der Liturgie benutzt werden oder die Frömmigkeit überhaupt nähren. Ziel war es, uns zu helfen, uns mit passenden Worten an Gott zu wenden, die Ausdruck unseres Glaubens an Ihn sind. Diese Gebete sind Frucht der Liebe der Kirche zu ihrem Herrn und bilden einen Schatz, der unser Herz formen kann. Daher schrieb der hl. Josefmaria: „Dein Gebet soll liturgisch sein. Möchtest du doch die Psalmen und die Messtexte liebgewinnen, statt Privatgebete zu verwenden“[9].

Mit dem Hauch des Heiligen Geistes

Wir alle sind gewöhnt, geschriebene Texte zu verstehen. Wir wissen, dass die Worte des Vaterunser, der Psalmen und anderer Gebete der Kirche uns zu unserem Umgang mit Gott angeleitet haben, selbst wenn wir bisher nicht darüber nachgedacht haben. Das Wort Gottes hat indes eine Eigenheit: Es ist lebendig und kann völlig unerwartet neue Gedanken mit sich bringen. Im Hebräerbrief heißt es: „Lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenken und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens“ (Hebr 4, 12).

Der Heiligen Geistes spricht in unserem Inneren

Die gleichen Worte, die wir immer wieder betrachten, klingen nicht immer gleich. Manchmal eröffnen sich uns neue Horizonte, ohne dass wir erklären könnten warum: Das ist das Wirken des Heiligen Geistes, der in unserem Inneren spricht. Der heilige Augustinus erklärt es genauer: „Der Klang unserer Worte trifft euer Ohr, aber der Meister ist innen (…). Wollt ihr einen Beweis, Brüder? Habt ihr nicht alle diese Predigt gehört? Wie viele werden hier weggehen, ohne etwas mitzunehmen! Was mich betrifft, so habe ich für alle gesprochen, aber die, die der Heilige Geist im Inneren nicht belehrt, gehen unwissend wieder nach Hause“[10].

Hier zeigt sich die enge Verbindung zwischen dem Heiligen Geist, dem inspirierten Wort und unserem Gebetsleben. Mit Recht ruft die Kirche ihn als den „inneren Meister“ an, der unser Herz belehrt mit den Worten, die Jesus selbst uns gesagt hat und uns in ihnen immer neue Horizonte entdecken lässt, damit wir Gott besser erkennen und Ihn jeden Tag mehr lieben.

„Maria bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen“ (Lk 2, 19). Das Gebet unserer Mutter nährte sich aus ihrem eigenen Leben und aus der intensiven Betrachtung des Wortes Gottes. Darin fand sie Licht, um die Dinge tiefer zu verstehen, die geschahen. An ihrem Lobgesang, dem Magnificat, spüren wir, wie sehr die Heilige Schrift ihr Gebet ständig befruchtete. Das Magnificat ist durchzogen von Versen aus Psalmen und anderen Worten der Heiligen Schrift wie zum Beispiel dem „Danklied der Hanna“ (1 Sam 2, 1-11) oder der Vision Jesajas (Jes 29, 19-20)[11]. Mit diesen Gedanken bereitete der Heilige Geist ihr bedingungsloses Ja auf die Botschaft des Engels vor. Ihr empfehlen wir uns an, damit auch wir unser Herz vom göttlichen Wort leiten lassen und so fähig werden, auf die Pläne Gottes für unser Leben fiat! zu antworten – es soll geschehen! Ich will!

Nicolás Álvarez de las Asturias


[1] K. Wojtyla, Ejercicios espirituales para jóvenes, BAC, Madrid 1982, S. 89.

[2] Papst Franziskus, Evangelii Gaudium, n. 264.

[3] Vgl. Der Weg, Nr. 333.

[4] Hl. Johannes vom Kreuz, Dichos de amor y de luz, 59.

[5] Hl. Augustinus, Brief 130.

[6] vgl. hl. Cyprian, La unidad de la Iglesia, el padrenuestro, a Donato, Ciudad Nueva, Madrid 1991; Santo Tomás de Aquino, Obras catequéticas. Sobre el credo, Padrenuestro, Avemaría, decálogo y los siete sacramentos, Ediciones Eunate, Pamplona 1995, pp. 98-128.

[7] Das Hallel besteht aus dem kleinen Hallel aus den Psalmen 113 (112) bis 118 (117) und dem großen Hallel, dem Psalm 136 (135), in dem der Vers wiederholt wird: „denn Seine Huld währt ewig“. Mit diesem Psalm endet das Passahmahl.

[8] Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 2597.

[9] Der Weg, Nr. 86.

[10] Hl. Augustinus, Dritte Homilie über den ersten Brief des hl. Johannes, 13.

[11] Außer den zitierten gibt es auch Referenzen aufHabakuk 3, 18; Hiob 12, 19-20; 5, 11-12 und die Psalmen 113, 7; 136, 17-23; 34, 2-3; 111, 9; 103, 1; 89, 11; 107, 9; 34, 10; 98, 3; 22, 9.