Die Demut: Quelle der Freude

Die Demut ist ein grundlegendes Charakteristikum, eines der Fundamente des echten christlichen Lebens, weil sie die „Wohnstatt der Liebe“ ist.

Niemand hat Gott je geschaut (1), betont die Heilige Schrift. Solange wir auf dieser Erde leben, haben wir keine unmittelbare Erkenntnis des göttlichen Lebens; zwischen Gott und dem Menschen besteht eine unendliche Distanz, und nur Er konnte sie, indem Er sich der Verfasstheit des menschlichen Lebens anpasste, durch seine Offenbarung überwinden. Gott hat sich den Menschen in der Schöpfung, in der Geschichte Israels, in den Worten der Propheten und schließlich in seinem eigenen Sohn, der die endgültige, komplette und definitive Offenbarung ist, gezeigt; er ist die Epiphanie Gottes: Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen (2).

Ein Gott, der Mensch wird! Das ist erstaunlich. Ein Gott, der in Christus sieht und sich sehen lässt, der hört und sich hören lässt, berührt und sich berühren lässt; der sich bis hin zur Menschwerdung erniedrigt und sich der Sinne bedient, damit wir seinen Ruf zur Vertrautheit mit ihm in seiner Liebe, zur Heiligkeit, verstehen. Die Verwunderung angesichts der Inkarnation des Wortes bewegt zur ehrfürchtigen Betrachtung der Handlungen, Taten und Worte Jesu. Wenn man das tut, entdeckt man, dass alles im Leben Christi, von seiner Geburt bis zum Tod am Kreuz, von Demut durchtränkt ist, denn er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz (3).

Die Demut, Wohnstatt der Liebe

Die Botschaft der Liebe Gottes ist durch die Erniedrigung des Sohnes zu uns gelangt. Die Demut ist ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal, eines der Fundamente des echten christlichen Lebens, weil sie die Wohnstatt der Liebe ist. Der heilige Augustinus schreibt: „Wenn ihr mich fragt, was das Wesentliche an der Religion und der Disziplin Jesu Christi ist, werde ich euch antworten: Das Erste ist die Demut, das Zweite die Demut und das Dritte die Demut“ (4). In der Demut des menschgewordenen Wortes offenbart sich uns, abgesehen von der Tiefe der Liebe Gottes zu uns, der königliche Weg, der zur Fülle dieser Liebe führt.

Das christliche Leben besteht in der Identifikation mit Christus: nur in dem Maß, in dem wir uns mit ihm vereinen, werden wir in die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott, Quelle aller Liebe, eingeführt und fähig, die anderen Menschen mit derselben Liebe zu lieben (5). Wie Christus demütig zu sein bedeutet, allen zu dienen, dem alten Menschen zu sterben, den Neigungen, die die Erbsünde in unserer Natur zurückgelassen hat. Deshalb begreift der Christ, dass „die mit Liebe getragenen Demütigungen schmackhaft und süß, ein Segen Gottes sind“ (6). Wer sie so annimmt, der öffnet sich für den ganzen Reichtum des übernatürlichen Lebens und kann mit dem heiligen Paulus ausrufen: Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein (7).

Die Gründe der Unruhe

Im Gegensatz zur tiefen inneren Freude, die der Demut entspringt, verursacht der Stolz nichts als Unruhe und Unzufriedenheit. Der Stolz führt dazu, alles auf sich zu beziehen und alle Geschehnisse unter einem ausschließlich subjektiven Gesichtspunkt zu analysieren: ob uns eine Sache gefällt oder nicht, ob sie einen Vorteil bringt oder Anstrengung verlangt usw.; und ohne zu überlegen, ob es sich um etwas Gutes an sich oder für die anderen handelt. Dieser Egozentrismus führt uns dazu, das Handeln und Denken der anderen nach den eigenen Kategorien zu beurteilen und mehr oder weniger explizit zu verlangen, dass sie sich nach unseren Vorstellungen verhalten sollen. Das ist der Grund, warum ein stolzer Mensch oft Opfer seines eigenen Ärgers wird, wenn er meint, dass die anderen ihm nicht genug Beachtung schenken, oder dass er traurig wird, wenn er die eigenen Fehler erkennt oder sieht, dass andere mehr gute Eigenschaften als er selbst haben.

Wenn sich jemand vom Stolz leiten lässt, dann wird er, auch wenn er seine eigene Zufriedenheit sucht, immer irgendeine Unruhe in sich tragen. Was fehlt ihm, um glücklich zu sein? Nichts, weil er alles hat; und alles, weil er das Grundlegende aus dem Blick verloren hat: seine Fähigkeit, sich dem anderen zu schenken. Sein Verhalten hat eine Seinsweise geschmiedet, die es ihm erschwert, das wahre Glück zu finden. Der Gründer des Opus Dei hat darauf hingewiesen: „Wenn es euch einmal schlecht geht und ihr bemerkt, dass sich die Seele mit Unruhe füllt, dann weil ihr um euch selbst kreist (…). Wenn du, mein Sohn, dich auf dich selbst konzentrierst, dann schlägst du nicht nur einen falschen Weg ein, sondern wirst außer-dem die christliche Freude in diesem Leben verlieren“ (8).

Der Stolz ist immer ein Widerhall jener ersten Rebellion, mit der der Mensch Gott zu ersetzen suchte, und deren Folge der Verlust der Freundschaft mit dem Schöpfer und der Harmonie mit sich selbst war. Das stolze Individuum vertraut so sehr auf seine eigenen Fähigkeiten, dass es schließlich seine der Erlösung bedürftige Natur zu vergessen droht. Deshalb bringt den Stolzen nicht nur die physische Krankheit aus der Fassung, und kann ihn sogar zur Verzweiflung führen, sondern auch die unvermeidliche Erfahrung der eigenen Beschränkungen, Fehler und Erbärmlichkeit. Er klebt so sehr an seinen eigenen Vorlieben und Meinungen, dass es ihm nicht gelingt, eine von seiner persönlichen Sicht abweichende Auffassung positiv zu schätzen und zu bewerten. Aus diesem Grund gelingt es ihm nicht, seine inneren Konflikte zu lösen, und es kommt zu häufigen Auseinandersetzungen mit den anderen. Diese Schwierigkeit, sich dem Willen anderer unterzuordnen, führt ihn dazu, auch den Willen Gottes nicht anzunehmen: er ist schnell davon überzeugt, dass Gott von ihm nicht verlangen kann, was er nicht will; und es kann geschehen, dass sich sogar das Bewusstsein selbst, ein von Gott abhängiges Geschöpf zu sein, für ihn zum Anlass des Grolls wird.

Die Anziehungskraft der Demut

Für den demütigen Menschen dagegen ist die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes Grund zur Freude, mehr noch, das einzige Motiv wahren Jubels. Gewiss entdeckt er, wenn er sich vor Ihn stellt, seine Begrenztheit und seine Kleinheit; aber seine Stellung als Geschöpf ist Quelle innerer Freude und keineswegs Anlass zu Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit. Die Demut ist ein Licht, das den Menschen die Größe seiner Identität als persönliches Wesen, das des persönlichen Dialogs mit dem Schöpfer fähig ist, entdecken und die Abhängigkeit von Ihm mit vollkommener Freiheit annehmen lässt.

Die Seele der demütigen Person erfährt die größte innere Erfüllung, wenn sie erkennt, dass das absolute Sein ein persönlicher, unendlich großmütiger Gott ist, der uns geschaffen hat, uns im Sein erhält und sich uns in Jesus Christus mit einem menschlichen Antlitz offenbart. Die göttliche Großzügigkeit, seine Herablassung uns Geschöpfen gegenüber lässt den Demütigen die Schönheit der geschaffenen Dinge genießen, in denen er einen Widerschein der Liebe Gottes entdeckt; und es bewegt ihn der Wunsch, dieses ständige Überwältigt Sein mit anderen zu teilen.

Die Reaktionen des Stolzen und des Demütigen sind ganz anders in Bezug auf den Ruf Gottes. Der Stolze versteckt sich hinter einer Haltung falscher Bescheidenheit, indem er vorbringt, wenige Verdienste zu besitzen – weil er auf die Welt, die er für sich konstruiert hat, nicht verzichten will; der demütige Mensch dagegen, hält sich nicht damit auf, zu urteilen, ob er zu unbedeutend ist, um die Heiligkeit zu erreichen. Es genügt ihm, die Einladung, in die Gemeinschaft mit Gott einzutreten, wahrzunehmen, um sie mit Freude anzunehmen, so sehr sie ihn auch verblüfft.

Jene, die wie die Heiligen wirklich darum kämpfen demütig zu sein, entfalten eine Persönlichkeit, die die anderen anzieht. Mit ihrem gewöhnlichen Verhalten erreichen sie es, in ihrer Umgebung einen Ort des Friedens und der Freude zu schaffen, weil sie den Wert der anderen anerkennen. Sie schätzen sie wirklich und deshalb verstehen sie es, in ihren Gesprächen, im Familienleben oder im Umgang mit Kollegen und Freunden Verständnis aufzubringen und zu entschuldigen; sie sind vom Wunsch geleitet zu helfen und mit allen gut auszukommen: sie sind fähig zu erkennen, was sie den Menschen in ihrer Umgebung schulden, und beanspruchen und fordern keine Rechte. An ihrer Seite spürt man schließlich die Liebe Gottes, die ihr Leben beseelt: Man findet Vertrauen, fühlt sich nicht verurteilt, sondern geliebt.

Wieder beginnen zu lernen, demütig zu sein

Häufig ist die Ursache der Erschöpfung oder des Pessimismus, die uns gelegentlich befallen, nicht die menschliche Kleinheit oder die für die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe nötige Anstrengung, sondern weil wir die Dinge mit einer Perspektive betrachten, die zu sehr auf das Ich konzentriert ist. „Warum werden wir Menschen traurig?“, fragte der heilige Josefmaria. Und er antwortete: „Weil unser irdisches Leben nicht den persönlichen Erwartungen entspricht oder weil Hindernisse auftauchen, die die Befriedigung unserer Wünsche unmöglich machen oder erschweren“ (9).

Man kann eine gewisse Empfindung der Traurigkeit angesichts eigener Schwierigkeiten oder jenen von anderen feststellen; angesichts einiger Fehler, die man genauer erkennt als früher, oder die man überwunden glaubte; angesichts der Unmöglichkeit berufliche oder apostolische Ziele zu erreichen, die man mit Begeisterung und Anstrengung lange Zeit hindurch verfolgt hat. Man kann auch die Auflehnung erfahren, irgendwelche Ereignisse oder Umstände, die zuwider sind und leiden lassen, nicht annehmen zu wollen. Immer, aber besonders in solchen Momenten, ist es notwendig, wie Don Álvaro in einem seiner Briefe riet, den Vorsatz zu erneuern, wieder zu beginnen , demütig sein zu lernen (10): indem wir den Herrn um Demut, seine Demut, bitten, und uns an die Jungfrau wenden, damit sie uns lehrt und uns Kraft gibt. Das ist der Sinn der Worte des Herrn: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe fin-den für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht (11). Deshalb lernt die verliebte Seele jeden Tag, im Gebet demütig zu sein: „Das Gebet ist die Demut des Menschen, der seine tiefe Armseligkeit erkennt und die Größe Gottes, an den er sich wendet und ihn anbetet, so dass er alles von Ihm erwartet und nichts von sich selbst“ (12). Wir erlangen den Frieden nur wieder, wenn wir, anstatt in unserem Inneren über das, was uns ge-schieht, nachzudenken und zu grübeln, diese Sorgen beiseitelassen und zu Christus zurückkehren.

„Eifer und Ruhe (alma, calma)“ (13). Diese Worte, die dem Gründer so sehr gefielen, fassen ein ganzes Lebensprogramm zusammen, nach dem sich die Seele, die mit der Gnade Gottes rechnet, mit Eifer und Klugheit jeder Schwierigkeit stellt. Wenn man so lebt, dann erfüllt man, was der heilige Josefmaria lehrte: „Alle jene Widrigkeiten, die uns so oft leiden ließen, sind nicht Ursache gewesen, jemals weder die Freude noch den Frieden zu verlieren, denn wir konnten erfahren, wie der Herr aus dem trockenen Felsen der Schwierigkeit Süßigkeit – wohlschmeckenden Honig – hervorholt: de petra, melle saturavit eos (Ps 81,17) “ (14).

Unsere Mutter, die heilige Maria, führt uns die Notwendigkeit vor Augen, demütig zu sein, um nahe bei Gott zu leben. Sie ist Vorbild der Freude, weil sie auch Vorbild der Demut ist: Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut (15).

(1) 1 Joh 4,12.

(2) Joh 14,9.

(3) Phil 2,6-8.

(4) Hl. Augustinus, Epist. 118,22.

(5) Vgl. Röm 5,5.

(6) Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einer Betrachtung, 25.12.1973.

(7) Phil 3,8-9.

(8) Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einer Betrachtung, 25.12.1973.

(9) Hl. Josefmaria, Freunde Gottes , Nr. 108.

(10) Msgr. Álvaro del Portillo, Brief 1.5.1990.

(11) Mt 11,28-30.

(12) Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 259.

(13) Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Beisammensein, 9.11.1972.

(14) Hl. Josefmaria, Brief 29.9.1957 , Nr. 4.

(15) Lk 1,46-48.