Die anderen und ich, Verse eines einzigen Gedichtes

Wir alle haben eine Geschichte, eine Familie, eine Umgebung, eine Kultur. Jeder von uns ist verfügbar für die anderen und kann daher überall ein Zuhause schaffen. Der immer offene Weg der Persönlichkeitsentfaltung führt über ein Leben im Hinblick auf die anderen und im Rahmen dieser inneren Ausrichtung.

Gott sah, dass es gut war 1. Auf dem Hintergrund dieses Verses, der den ganzen ersten Bericht über die Erschaffung der Welt umrahmt, erscheint als Kontrast „der Gedanke Gottes, gleichsam die Empfindung Gottes, der Adam (...) allein im Garten beobachtet: Er ist frei, er ist Herr, … aber er ist allein. Und Gott sieht: Das »ist nicht gut«“ 2. Die Einsamkeit des Menschen passt nicht zum Schöpfungsplan. Als Gott ihm schließlich Eva vorstellt, die Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch ist 3, wird Adam befreit von der seltsamen Melancholie, die er sich selbst nicht erklären konnte. Jetzt ist er in der Lage, zusammen mit Gott zu sagen, dass „alles gut ist“; denn gestützt auf seine erkannte Berufung zur Begegnung mit anderen, die sind wie er , hört die Welt auf, ein unbewohnbarer Ort zu sein.

Im Zusammenleben mit anderen festigt sich unsere Persönlichkeit, aber diese Aussage erfasst noch bei weitem nicht alles. Wir brauchen die anderen und sie brauchen uns. Niemals sind sie überflüssig, denn sie sind der Ort, zu dem wir gehören und von dem aus Gott uns ruft, alle auf- und anzunehmen. Weil wir eine Geschichte, eine Familie, Nachbarn, eine Kultur haben, ist jeder von uns ein Zuhause – ein aufnahmebereiter Ort – und fähig, ein Zuhause zu schaffen, wo immer er hinkommt. Da wir selbst nicht unbehaust sind, sind wir in der Lage, die Welt als Haus zu sehen – als unser eigenes Zuhause und zugleich als „das große, gemeinsame Haus“ 4. Wenn wir unsere Wurzeln lieben und unaufgeregt unserer Wesensart gemäß leben…, dann sind wir fähig zu lieben und geliebt zu werden, andere anzunehmen und selbst angenommen zu werden.

Mit anderen und für sie

Eine grundlegende Erfahrung unseres Lebens ist die, dass wir erwartet wurden und jemand uns aufgezogen und vorangebracht hat. Jeder von uns ist ein Mensch, der angenommen wurde . Niemand wächst allein auf; niemand lebt in Wirklichkeit nur auf sich gestellt, auch wenn es Menschen gibt, die so leben müssen. Selbst der Zerfall von Familien und die daraus folgende Verlassenheit vieler Kinder lassen aus diesem fundamentalen anthropologischen Grundsatz nicht eine schöne, aber nutzlose Idee werden. Es gibt in der Tat Menschen, die in einem feindlichen Umfeld aufgewachsen sind und durch den Mangel an Liebe Schaden erlitten haben. Gerade darum sind sie aber empfänglich für Zuneigung und können selbst zu einem Ort der Aufnahme für andere werden. Wer viel gelitten hat, ist fähig, sehr zu lieben.

Es gibt kein isoliertes menschliches Leben, jedes einzelne steht in Verbindung mit anderen. Keiner ist ein bezugloser Vers, alle sind wir Teil ein- und derselben göttlichen Dichtung .5 Die anderen existieren nicht nur außerhalb unserer selbst wie ein Stein am Wegesrand, sie gehören zu uns und wir zu ihnen, viel enger als wir uns vorstellen können. Im Himmel werden wir ganz verstehen, was wir auf Erden bereits erahnen können in dem Maß, in dem wir in der Nähe Gottes und der Menschen in unserem Umfeld leben. Diese gegenseitige Zugehörigkeit hat zwei bedeutende Konsequenzen: Die anderen stützen sich auf mich, und ich kann und muss mich auf sie stützen. Lieben und sich lieben lassen – der Weg zur Reife lässt uns diese beiden Aspekte des „bei den anderen und für die anderen da sein“ 6 in unser Leben integrieren.

In der Pubertät beginnt diese Herausforderung, deutlich zu werden. Bis dahin haben die Eltern das Herz des Kindes gebildet, das jetzt selbständig wird. Zwar findet fast alles eine Lösung, aber die Erziehung durch die Eltern bestimmt zum guten Teil, wie wir auf die Welt blicken und was wir zu sehen vermögen. Jugendliche tendieren meist dazu, sich Vorbilder zu suchen, die anders sind als ihre Eltern, weil sie sich nun abheben und behaupten wollen. Sie sind von einander widerstrebenden Gefühlen hin- und hergerissen: Sie spüren die eigene Abhängigkeit, aber auch den erwachenden Wunsch nach Unabhängigkeit. Daher geht die Liebe zu den Eltern Hand in Hand mit einer gewissen Ablehnung des eigenen Zuhause. Sie sind Anfänger, geben sich aber betont selbstsicher; sie suchen sich zu unterscheiden, wollen aber gleichzeitig Teil einer Gruppe sein. Es ist eine schwierige Zeit für die Eltern und für sie selbst, aber hinter den etwas übertriebenen Versuchen, sich abzusetzen steckt das Bedürfnis nach Entfaltung der eigenen Individualität.

Wenn es für das Kind typisch ist, alles auf sich selbst zu beziehen, so gehört es zum Jugendalter, dass das Ich weiter wird, dass es sich den anderen öffnet. Es beginnt, Verantwortung zu spüren und Lust, einen persönlichen Beitrag zu leisten. Es merkt, dass auch die anderen Interessen und eigene Vorstellungen haben. Die anderen existieren . Ein klares Zeichen von Unreife ist die Unfähigkeit, sich dieser neuen Forderung des Lebens zu stellen. Überbehütung vonseiten der Eltern – eine falsch verstandene Liebe, ein übertriebener Eifer, dem Kind Schwierigkeiten und Unnannehmlichkeiten zu ersparen – kann Grund für diese Charaktereigenschaft sein. Später taucht dieser Zug zum Beispiel in Müttern oder Vätern auf, die für ihre Arbeit, ihre Hobbies, ihre Freundschaften leben und sich nicht um die Erziehung ihrer Kinder kümmern; er findet sich bei Hauseigentümern, die sich nicht für die Belange der Hausbewohner interessieren und unfähig zur friedlichen Lösung von Problemen sind; er prägt Leute, die eine Liste von Beleidigungen führen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass immer die anderen an den Konflikten schuld sind.

Talente, um zu dienen

Wir verdanken uns letztendlich den anderen. Diese Überzeugung ist keineswegs Zeichen von Naivität oder Unterwürfigkeit, sondern von Reife. Sie beinhaltet auch, dass meine Zeit nicht mir gehört , weil die anderen mich brauchen. Ob Erholung, Vergnügen, kulturelle oder berufliche Bildung – alles bekommt eine neue, erweiterte Perspektive, weil sich die Grenzen verwischen zwischen dem, was mein ist und dem, was die anderen betrifft, ohne dass dadurch die persönliche Verantwortung aufgehoben oder die Freiheit der anderen angegriffen würde. Vielmehr ist dies eine zutiefst christliche Einstellung: Wenn der Herr dir gute Anlagen oder ein besonderes Talent geschenkt hat, dann nicht bloß, damit du sie genießt oder mit ihnen angibst, sondern damit du sie in dienender Liebe zum Nächsten entfaltest. 7

Der Egoismus entfernt uns von der Wirklichkeit, er lässt uns vergessen, dass alles in unserem Leben Geschenk ist. Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen? 8 Wenn alles, was wir haben, Geschenk ist, dann sind es die anderen umso mehr. Und dennoch leben wir manchmal so, als existierten sie nicht, oder wir beurteilen sie unterschwellig nach unseren eigenen Gesichtspunkten oder unseren Interessen. Anstatt sie anzunehmen, benutzen wir sie.

Jeder Mensch neigt dazu, sich eine gemütliche Ecke einzurichten, in die er sich zurückzieht. Sollen sich die anderen doch anstrengen! 9 Die Tendenz, die Welt um die eigene Person kreisen zu lassen, ist ein Zeichen mangelnder Reife, dem wir gelassen, aber mit Entschiedenheit entgegentreten müssen. Betrachten wir unser Leben nicht so sehr als individuelles Unternehmen, sondern als Beitrag zum Glück aller! Dann entdecken wir in der Tat, dass das echte Glück nicht in bloßer Selbstverwirklichung besteht. „Man lebt nicht besser, wenn man den anderen entflieht, sich versteckt, nicht teilt noch gibt, wenn man sich in seiner Bequemlichkeit verschließt. Das käme einem langsamen Selbstmord gleich (…). Ich habe eine Sendung auf dieser Erde, deshalb lebe ich auf ihr. Ich muss erkennen, dass ich wie mit Feuer gezeichnet bin von dieser Sendung, Licht zu sein, Segen, der belebt, erhebt, heilt und befreit.“ 10

Es ist eine Tatsache, dass sich jeder innerhalb einer Gruppe soweit einbringt, wie er will. Es gibt vieles im täglichen Leben, was man im Voraus weder wissen noch vereinbaren kann. Familie und Gesellschaft kommen dank des freiwilligen persönlichen Einsatzes voran. Während manche keinerlei Anstrengungen investieren möchten, begreifen andere neben ihnen, dass es Menschen gab, die Zeit eingesetzt haben, um ihnen zu helfen, körperlich und seelisch zu wachsen, und dass auch sie gerufen sind, diesen Weg zu gehen, den einzigen, der wirklich frei macht. Es sind Familienmütter und -väter, Kinder, die sich um ihre Eltern kümmern, Studenten, die anderen in ihren Schwierigkeiten beistehen, Berufstätige, die Probleme angehen, an die sich sonst niemand heranwagt. Wenn du deine Arbeit beendet hast, dann tu die deines Bruders, hilf ihm um Christi willen mit so viel Takt und Natürlichkeit, dass der, dem du hilfst, gar nicht bemerkt, dass du mehr tust, als du von Rechts wegen tun müsstest. Das ist wirklich das feine Verhalten eines Kindes Gottes .11

So zu leben ist selbstverständlich nicht zu verwechseln mit einer Haltung der Unterwürfigkeit, die sich in allen möglichen Dingen verausgabt anstatt die anderen zu fordern, noch mit der Naivität dessen, der sich bloß ausnutzen lässt. Dienen besteht nicht in ständiger Aktion, sondern vor allem darin, den anderen in ihrem Reifungsprozess beizustehen, was auch bedeutet, sie ihre Verantwortung erkennen und tragen zu lassen.

Nähe

Für beinah alle Probleme gibt es im heutigen Leben technische Lösungen, die menschliche Wärme und gegenseitige Hilfe scheinbar überflüssig machen. Dennoch zeigen sich angesichts von Situationen, die unsere Sicherheit erschüttern, wie Naturkatastrophen oder Unfälle, spontane Solidarität und Gemeinschaftssinn, die im Alltagsgetriebe mit seinen Forderungen oft verborgen bleiben… Plötzlich taucht von neuem auf, was uns eint, als erwachten die Gemeinsamkeiten aus einem Dornröschenschlaf. Wir wenden uns wieder dem zu, was wesentlich ist. Dasselbe geschieht auf der persönlichen Ebene bei einschneidenden Ereignissen wie etwa dem Tod oder der Krankheit eines geliebten Menschen; oder im täglichen Umgang miteinander bekommen bestimmte Verhaltensweisen wegen unserer persönlichen Umstände Gewicht, zum Beispiel wenn wir die Bitterkeit der Gleichgültigkeit 12 erfahren mussten, eine Kälte, die die Seele erstarren lässt; oder wenn wir im Gegenteil ein ehrliches, herzliches Interesse vonseiten anderer bemerkt haben… Dann öffnet sich das Herz für das wirklich Wichtige: die Annahme der anderen.

Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen. 13 Wir alle sind in gewissem Sinne Fremde und sehnen uns danach, aufgenommen, getröstet, angehört und angeschaut zu werden. Ein reifer Mensch hat diese Sensibilität für die anderen, und er ist auch manchmal fähig, über mangelndes Feingefühl anderer hinwegzugehen, selbst wenn es ihn schmerzt. Manchmal ist es nötig, jemanden auf seine wenig taktvollen Verhaltensweisen aufmerksam zu machen. Andere Male ist die beste Methode die Ansteckung, denn früher oder später weckt das Fingerspitzengefühl im Umgang auch die Sensibilität des gröbsten Menschen.

Das Gespür für die anderen bringt manche Leute auch dazu, sich für ihre direkte Umgebung zu engagieren, indem sie sich zum Beispiel „um ein öffentliches Objekt kümmern (ein Bauwerk, einen Brunnen, ein verwahrlostes Denkmal, eine Landschaft, einen Platz), um etwas, das allen gehört, zu schützen, zu sanieren, zu verbessern oder zu verschönern. In ihrer Umgebung entwickeln sich Bindungen oder werden solche zurückgewonnen, und es entsteht ein neues örtliches soziales Gewebe. So befreit sich eine Gemeinschaft von der konsumorientierten Gleichgültigkeit (…). Auf diese Weise wird für die Welt und die Lebensqualität der Ärmsten gesorgt, mit einem solidarischen Empfinden, das zugleich das Bewusstsein ist, in einem gemeinsamen Haus zu wohnen, das Gott uns anvertraut hat“ 14.

Reife, die echte Solidarität miteinschließt, ist nicht zu verwechseln mit der Leichtigkeit, Bekanntschaften zu schließen, die wortgewandten oder extrovertierten Menschen eigen ist. Es handelt sich nämlich vor allem darum, da zu sein , zu beobachten, zuzuhören, anzunehmen und von allen zu lernen. Besonders in einer Zeit, in der die Kommunikationstechnologien eine Verbindung zu vielen Menschen ermöglichen, müssen wir die Kraft der echten Präsenz wiederentdecken. Mit einem Smartphone können wir sofort einen Kontakt zu jemandem herstellen, was aber noch keine größere Nähe bedeutet. Virtuell bestimmen wir selbst, wer unsere Bekannten und Freunde sind; doch paradoxerweise kann uns gerade das die Menschen in unserer unmittelbaren Nähe aus den Augen verlieren lassen. Auch wenn wir uns daran gewöhnt haben, bleibt der Anblick einer Gruppe von Leuten, die anstatt miteinander zu reden, ihre Mails und andere Botschaften verwalten, doch etwas sehr Trauriges. Die virtuelle Kommunikation verhindert dann die reale, und fast ohne es zu merken, können wir abhängig werden davon, wissen zu wollen, ob jemand sich an uns erinnert, anstatt zu denken: Der Mensch neben mir braucht mich! Und das Beste, das ich ihm geben kann, ist meine Nähe. Genau diese Entscheidung für die persönliche Gegenwart, mit der wir uns dem direkten Kontakt, der ungefilterten Wirklichkeit, aussetzen, macht uns menschlicher, wacher für das, was wirklich zählt. An die anderen denken, für sie beten führt uns dazu, für sie zu leben. Nur so leben wir das Leben Christi und werden eins mit Ihm. 15

1 Vgl. Gen 1, 10, 12, 18, 21,25. Vers 31 fügt hinzu: Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut .

2 Papst Franziskus, Audienz, 22.04.15; vgl. Gen 2, 18

3 vgl. Gen 2, 23

4 Papst Franziskus, Enzyklika Laudato sí, Nr. 13

5 Christus begegnen, Nr. 111

6 Papst Franziskus, Evangelii gaudium , Nr. 273

7 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 422

8 1 Kor 4, 7

9 Hl. Josefmaría, Aufzeichnungen aus einem Beisammensein, 21.10.1973

10 Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium , Nr. 272-273

11 Hl. Josefmaria, Der Weg , Nr. 440

12 Hl. Josefmaría, Brief 11.3.1940, Nr. 7

13 Mt 25, 35

14 Papst Franziskus, Laudato sí , Nr. 232

15 Hl. Josefmaría, Kreuzweg, 14. Station