Verborgen tragende Verästelungen

Zum Fest Allerheiligen eine Betrachtung von Josef Arquer

Foto: aboutpixel.de / © Sven Hastedt

Im spätherbstlichen Wald sieht das Auge kaum mehr die feurigen Farben, das Ohr vernimmt nicht mehr das sommerliche Rauschen des Laubes. Urmutter Erde nimmt in Verwesung auf, was sie fruchtbar hervorgebracht hatte. Die Blätter fallen, und dem Blick werden lange verdeckte Äste und Zweige sichtbar.

Die rätselhaften, sonst durch das Blattwerk verborgene Verästelungen, können den Schauenden zu einem Zeichen werden für die Verbindung unter Menschen jenseits von Zeit und Raum, wie sich im Fest Allerheiligen zeigt.

Ein paar Wochen nachdem wir Gott für die Früchte der Erde gedankt haben, ist es nun, als möchte die Kirche ein Erntedank für die Früchte des Himmels feiern. Wir denken an jene „verherrlichten Glieder der Kirche, unsere Brüder und Schwestern, die schon zur Vollendung gelangt sind“. Sie haben das Ziel ihres Weges erreicht: die „heilige Stadt, unsere Heimat, das himmlische Jerusalem“ (Präfation vom Fest).

Es heißt, dass die Wurzeln dieses Festes im Gedächtnis aller Märtyrer Anfang des 6. Jahrhunderts liegen, als das Pantheon in Rom als Kirche „Sancta Maria ad Martyres“ geweiht wurde. Zur römischen Kaiserzeit war es der Tempel der dreitausend im Reich anerkannten Gottheiten.

Zeugen der Hoffnung

Jeder Heilige hat seine eigene Art uns vorzuleben, dass die Seligpreisungen Jesu kein abstraktes Programm und kein unerreichbares Ideal sind, sondern realisiert werden können – allerdings im Kampf, mit Verwundungen und Niederlagen, mit Demütigungen und Enttäuschungen, in Hoffnung und Ausdauer. Jeder und jede Heilige bezeugt die Hoffnung, die Drang aus Gnade ist: „Sucht sein Antlitz allezeit! Dein Angesicht, Herr, will ich suchen“ (Ps 105,4) – Wie? Der heilige Bernhard von Clairvaux antwortet in einer Predigt zum Hohenlied: „Nicht mit den Schritten der Füße wird Gott gesucht, sondern mit Schritten der Sehnsucht. Und das glückliche Finden vertreibt die Sehnsucht nicht, sondern steigert sie.“

Menschen aller Zeiten sind in der Kirche unsere Zeitgenossen. Ihre Gebete und ihre Taten sind geblieben: Nicht in der Anonymität einer Gattung, sondern in der Erfüllung bei Gott. Auch jetzt betet jemand für mich – bete ich für jemanden. Auch jetzt sendet mir das Leiden eines anderen Menschen Kraft zu. Der Schmerz eines Gliedes wird für den ganzen Leib fruchtbar, und der ganze Leib wirkt mit, dass die Wunden heilen.

Mit dem Weinstock verbunden

Die Verbundenheit untereinander gründet in Christus. Papst Benedikt sprach darüber in seiner Predigt im Berliner Olympiastadion. Jesus habe nicht gesagt: „Ihr seid der Weinstock“, sondern: „Ich bin der Weinstock – ihr seid die Reben“ (Joh 15,5). „Das heißt: So wie die Rebzweige mit dem Weinstock verbunden sind, so gehört ihr zu mir! Indem ihr aber zu mir gehört, gehört ihr auch zueinander. Und dieses Zueinander- und Zu-ihm-Gehören ist nicht irgendein ideales, gedachtes, symbolisches Verhältnis, sondern – fast möchte ich sagen – ein biologisches, ein lebensvolles Zu-Jesus-Christus-Gehören. Das ist die Kirche, diese Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus und füreinander, die durch die Taufe begründet und in der Eucharistie von Mal zu Mal vertieft und verlebendigt wird. 'Ich bin der wahre Weinstock', das heißt doch eigentlich: Ich bin ihr und ihr seid ich – eine unerhörte Identifikation des Herrn mit uns, mit seiner Kirche.“

Da klärt sich, was das heißt: „Wir, die vielen, sind ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören“ (Röm 12.5). Jeder, der an Christus glaubt, sich seiner Gnade öffnet und sie in guten Werken fruchtbar werden lässt, macht sich den gemeinsamen Reichtum zu eigen und bereichert seinerseits die ganze Kirche. Wieder mit Worten Benedikts XVI. in Berlin: „Glaube ist immer auch wesentlich ein Mitglauben. Niemand kann allein glauben. Wir empfangen den Glauben – so sagt uns Paulus – durch das Hören, und Hören ist ein Vorgang des Miteinanderseins, geistig und leiblich. Nur in dem großen Miteinander der Glaubenden aller Zeiten, die Christus gefunden haben, von ihm gefunden worden sind, kann ich glauben. Dass ich glauben kann, verdanke ich zunächst Gott, der sich mir zuwendet und meinen Glauben sozusagen ‚anzündet'. Aber ganz praktisch verdanke ich meinen Glauben meinen Mitmenschen, die vor mir geglaubt haben und mit mir glauben. Dieses große ‚Mit', ohne das es keinen persönlichen Glauben geben kann, ist die Kirche.“

Das große Mit und das weite Für

Zum großen „Mit“ gehört ein weites „Für“ im Austausch geistlicher Güter: Jemand braucht mein Gebet – ob er so denkt oder nicht. Jemand verlässt sich auf meine Treue. Jemand macht mich reich durch sein Opfer: „Je mehr meine Treue wächst, desto mehr trage ich dazu bei, dass auch andere in der Treue wachsen. Wie wohltuend ist es zu spüren, dass wir uns gegenseitig stützen!“ (Josefmaria Escrivá, Spur des Sämanns 948) Die Weite des Betens „mit“ und „für“ kann das persönliche Gebet beflügeln. Wir beten füreinander, für die Anliegen von Papst Franziskus und der ganzen Kirche, für das apostolische Wirken in den Missionsgebieten oder hier bei uns, für die Mächtigen und die Ohnmächtigen, für Schwestern und Brüder in jeglicher Not, für Menschen, die sich dem Glauben entfremdet haben, für alle, die Christus noch nicht kennen oder ihn gar hassen und Hass predigen.

Gleichsam als Echo auf das Fest Allerheiligen dämmert der Gedenktag Allerseelen herauf. Was wäre der Friedhofsbesuch unter fallenden Blättern ohne den Glauben an die Auferstehung? Allenfalls ein edler und melancholischer Versuch, die „Gewesenen zu ehren, die nicht mehr sind“. Doch im Licht des Glaubens wird der Besuch am Grab zum Dank für alles, was unsere Verstorbenen uns zu ihren Lebzeiten gegeben haben. Der Glaubende kan die nun sichtbaren Verästelungen in seinem Herzen spüren. Sie überschreiten das Gestern und das Heute und begründen weiterhin die Gemeinschaft mit jenen, die „uns vorangegangen sind im Zeichen des Glaubens“.