Freiheit für „digitalisierte“ Schüler neu definieren

S.O.S Erziehung: Charakterbildung ist kein alter Hut: Schweizer Erziehungsexperte Louis Cardona beim Münchener Jugendclub KlubKürbis.

Louis Cardona

In der Schule sind Jungen mittlerweile im Vergleich zu Mädchen insgesamt leistungsschwächer und werden oft falsch beurteilt. Sie müssen daher mehr dazu motiviert werden, gegen ihre Unlust zum Lernen anzukämpfen. Dazu rief Louis Cardona, Direktor des „Centro Culturale Montebrè“ im schweizerischen Lugano, auf. Bei einem Diskussionsabend im Münchner Jugendclub KlubKürbis zum Thema „S.O.S Erziehung: Charakterbildung ist kein alter Hut“ erläuterte er, unter dem ständig wachsenden Einfluss der digitalen Medien im Zeitalter von Facebook und Computerspielen sei Erziehung sehr viel schwieriger und zugleich dringlicher geworden.

 

Als große Herausforderung sieht es Cardona an, dass die Gesellschaft der Freiheit die erste Stelle einräume. Er machte dabei auf die Ambivalenz des Begriffs auf- merksam: Er könne als vollkommene Unabhängigkeit von Zwängen jeder Art verstanden werden, aber auch als bewusst verantwortete Entscheidung für etwas als richtig Erkanntes. Ausschließlich materialistische Ziele wie Genuss, Geld, Gesundheit, Macht, Schönheit oder Sex werden immer bestimmender und legen den Jugendlichen den Gedanken nahe: „Warum soll ich mich noch anstrengen, wenn ich das Leben doch genießen soll?“ Die Schule sei dann natürlich keiner Mühe mehr wert. Die maximale Befreiung von allen Einschränkungen nach dem Motto „Ich muss dürfen, was ich will“ und die Zerstörung aller Werte, die Mühe kosten, wird so zum beherrschenden Ideal. Der Tod der Erziehung auf Grund eines solchen Freiheitsverständnisses komme plakativ in dem bekannten Pink Floyd-Song „We don‘t need no education“ zum Ausdruck. Der Experte aus dem Tessin plädierte für den Neuansatz einer ganzheitlichen Erziehung, die den Kindern die Möglichkeit eröffnet, reife, großherzige und wirklich glückliche Menschen zu werden. Dafür müsse die Freiheit anders definiert werden: „Anstatt ,Ich bin frei, wenn ich tue, was ich will‘ muss es heißen ,Ich bin frei, wenn ich tun will, was ich tun soll.“ 

Das im krassen Gegensatz dazu stehende Ideal grenzenloser Freizügigkeit hat nämlich fatale Konsequenzen für den praktischen Schulalltag: Denn die von Laptop, PlayStation und iPod „digitalisierten“ Kinder langweilten sich in der Schule. Mangels Motivation boykottierten sie häufig das Schulsystem, brächten Unruhe in die Klasse und erzielten schlechte Schulnoten. Sie müssten anders als frühere Schülergenerationen angepackt werden, meinte Cardona. Da die Lehrer darauf psychologisch nicht vorbereitet würden, seien sie ohnmächtig und würden zu Sündenböcken, die sich zwar Mühe gäben, aber viel litten, weil sie überfordert seien. Sie hätten zu viele Kinder zu unterrichten und brauchten eine enorme Geduld, um Schüler zur Konzentration zu bewegen, die nur Musik, Video-Games und das Interesse am anderen Geschlecht im Kopf hätten.

 

Jungen hätten es „als bedrohte Spezies“ überdies besonders schwer. Denn sie fühlten sich von Lehrerinnen, die sie überwiegend unterrichten, als „Mädchen zweiter Klasse“ missverstanden. Von ihnen würden das Ausdrucksvermögen, der Ordnungssinn, die Multitasking-Fähigkeiten und die psychologische Reife der gleichaltrigen Mitschülerinnen erwartet. Dazu seien sie in ihrem meist weniger fortgeschrittenen Entwicklungsstand oft noch nicht fähig. Ihr Hauptinteresse sei wesentlich stärker auf physisches Agieren ausgerichtet. Gerade bei den Jungen sei daher eine Erziehung des Herzens vordringlich. „Sie müssen lernen, ihr eigenes Herz zu kennen, und sich bewusst werden, warum sie keine Lust haben, um dann dazu bewegt zu werden, auch etwas ohne Lust zu tun“, forderte der Referent, der als Coach Jugendliche, Eltern und Lehrer berät und aus den Erfahrungen einer langjährigen Tätigkeit in der praktischen Jugendarbeit berichtete. Er schilderte den Fall eines Zwölfjährigen, den er als protestierenden Skinhead kennen lernte, der aber dann seine äußere Anti-Haltung aufgab und inzwischen Polizist werden will. Er war einfach dadurch ermuntert worden, dass ihm jemand darauf aufmerksam machte, er sei viel besser, als er denke, was ihm nach seiner eigenen Aussage nicht einmal seine Mutter gesagt habe. „Die Gründung einer Familie, weniger die zukünftige Arbeitsstelle, sollte das entscheidende Ziel der heutigen Erziehung sein, weil die erziehungslosen Kinder dazu keine Kraft haben“ betonte Cardona. Ausgangspunkt dafür sei die befreiende Macht der Liebe, weil ausschlaggebend für ihre Motivation sei, was die Jugendlichen liebten.

Wichtig sei schließlich die Förderung eines Schulsystems, das den Eltern wieder Mut mache, bei der Erziehung der Kinder mitzumachen und trotz beruflicher Anspannung Zeit für sie aufzubringen. Denn sie sollten die ersten Erzieher der Kinder sein und sich in diesen Fragen auch weiterbilden. In der Realität werde die Erziehung aber als unangenehme Angelegenheit oft weiterdelegiert: Der Vater sieht die Erziehung als Frauensache an. Die Frauen vertrauen auf die berufliche Kompetenz der Lehrer, die bei Problemfällen auf den Kinderarzt oder die Schulpsychologin verweisen, womit die Kinder schließlich als Patienten betrachtet werden.

Liebe zu den Kindern zeige sich dann auch nicht mehr darin, ihnen auch „Nein“ zu sagen, und in notwendigen Zurechtweisungen, die man als eine bezahlte Dienstleistung lieber Spezialisten überlasse, sondern in Geschenken etwa bei guten Noten. So verarme die Erziehung ausschließlich zum Belohnungssystem. Eltern trügen damit indirekt auch dazu bei, der Nachwuchs sie zu bloßen Sponsoren ihrer Wünsche nach Vergnügungsmaximierung degradiere. Bei der dringend förderungsbedürftigen Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern sollten deshalb weniger die Noten als vielmehr die Person des Kindes im Vordergrund stehen.

von Bernd Kreuels