Freundschaft zwischen Eltern und Kindern - entscheidend ist die Liebe

Die Wochenzeitung „Die Tagespost“ veröffentlichte im April 2019 eine Serie über Freundschaft als höchster Form der Gemeinschaft mit dem Unterthema „Freundschaft zwischen Eltern und Kindern“. Der Heilige Josefmaria wird darin als ein Spezialist auf diesem Gebiet von Autorin Martine Liminiski angeführt.

Das Konzept der Autorität als dienstbare und gleichzeitig emotional verankerte Verantwortung entspricht dem sozialen Wandel von der Großfamilie zur Kernfamilie. Es entspricht den Konstanten der engen verwandtschaftlichen Beziehungen ebenso wie den emotionalen Ansprüchen. Autorität als reine Verfügungsgewalt ist längst passé. Die Arbeitsteilung und der Prozess der gesellschaftlichen Atomisierung, der mit der Industrialisierung begann und den Arbeitsplatz und vielfach auch den Arbeitsort von der Familie entfernte, ja entfremdete, hat vor allem die Vaterrolle in ihrer Beschaffungsfunktion gestärkt, aber in ihrer Erziehungsfunktion geschwächt. Letztere aber setzt Präsenz voraus und ist im wahrsten Sinn des Wortes prägend – auch für eine spätere Freundschaft.

Alexander Mitscherlich hat die Spannung zwischen Erziehungs- und Beschaffungsfunktion psychologisch untersucht. In seinem bekannten Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ spricht er von der „Entleerung der Autorität“. Die „Arbeitsfragmentierung“ und der damit zusammenhängende „Übergang vom selbstständigen Produzenten in den Stand des Arbeiters und Angestellten, der Lohn empfängt und Konsumgüter verbraucht, hat unaufhörlich zur Entleerung der auctoritas und zur Verringerung der innerfamiliären wie überfamiliären potestas des Vaters beigetragen“. Der klassenlose Massenmensch habe den Vater sowohl als Vorbild wie als Quelle der Autorität verworfen. Es fehle „die verbindliche, anschauliche väterliche Unterweisung im tätigen Leben“, die „verlässliche Tradition“ entfalle, weshalb man sich mehr am Verhalten der Altersgenossen orientiere. „Die peer group wird zur Richtschnur des Verhaltens.“ Das habe gravierende Folgen für den Strukturaufbau der Gesellschaft. Dem gegenzuhalten geht nur mit einer Beziehung, die auf wahrer Freundschaft aufgebaut ist.

Vertrauen verbindet Autorität und Freundschaft

Autorität und Freundschaft haben ein verbindendes Element: das Vertrauen. Vertrauen heißt auch, dass der Freund, die Freundin es gut mit mir meint, wie schon Thomas von Aquin sagt: „Es gehört zur Natur der Freundschaft, dass der Freund dem Freunde Gutes tun will.“ Aber das reicht noch nicht zur Freundschaft. Es gehören noch zwei verwandte Elemente dazu: die Selbstlosigkeit und die Aufrichtigkeit. Letzteres beschreibt Augustinus so: „Niemand kann wahrhaft jemandes Freund sein, der nicht zuinnerst ein Freund der Wahrheit selbst ist.“ Das heißt, die Kommunikation, das vertrauliche Gespräch muss wahrhaftig und aufrichtig geführt werden. Solche Gespräche sind die Grundlage einer Freundschaft, die den anderen ernst nimmt, auch in seiner anderen Lebensweise. Ein großer Anwalt der selbstlosen Freundschaft, der heilige Josefmaria Escriva de Balaguer, formulierte das so: „Der wahre Freund kann nicht zwei Gesichter für seinen Freund haben; Freundschaft verlangt, wenn sie echt und aufrichtig ist, Verzicht, lautere Absicht, gegenseitige Gefälligkeiten, edle und gebotene Dienste. Ein Freund ist in dem Maße stark und aufrichtig, in dem er hochherzig an die anderen denkt, mit persönlicher Bereitschaft zu Opfer und Hingabe. Vom Freund erwartet man, dass er dem Klima des Vertrauens entspricht, das bei der wahren Freundschaft entsteht, man erwartet die Anerkennung seiner selbst und, wenn nötig, auch die Verteidigung des Freundes, klar und ohne Abstriche.“

Solche Freundschaft ist in der heutigen individualisierten Welt, in der Ich-Gesellschaft eher selten. Aber sie entspricht den Wunschvorstellungen der Jugendlichen (sicher auch der vieler Erwachsener). Denn immer noch sind den meisten Jugendlichen nach Angaben von Umfragen seit Jahren Werte wie Treue, Zuverlässigkeit, Vertrauen, Verständnis und Hilfe in Lebensfragen wichtig. Auch die Sehnsucht nach Familie und emotionaler Harmonie ist ungebrochen. In diesem Sinn ist Freundschaft das Ergebnis einer wahren Begegnung von Personen. Ohne solche Begegnungen ist ein sinnvolles und fruchtbares Leben kaum denkbar. Wahr, aufrichtig, selbstlos – der Kern der Freundschaft ist die Liebe. Thomas von Aquin definiert: „Lieben heißt jemandem Gutes wollen“. Deshalb ist auch die Ehe nichts anderes als eine tiefe und alle Aspekte der Menschlichkeit umfassende Freundschaft zwischen Mann und Frau. Man wünscht einander nur Gutes. Bei der Freundschaft zwischen Eltern und Kindern geht es um diesen Kern der Liebe. Die Exklusivität des ehelichen Bandes setzt freilich auch eine prinzipielle Priorität. Schon Leo XIII. bezeichnete die Ehe als „die höchste Gemeinschaft und Freundschaft“ (Enzyklika „Quamquam pluries“, 1889) und Paul VI. nannte sie in der Enzyklika „Humanae vitae“ eine „besondere Form personaler Freundschaft“. Diese Priorität zu sehen und zu leben, fällt Müttern gelegentlich schwerer als Vätern.

Die Familie als Schule der Liebe

Liebe und Freundschaft sind zwar Sehnsuchtsflächen von Jugendlichen, aber im Gespräch mit Jugendlichen (manchmal auch mit Erwachsenen) muss man heute erst mal den Medienmüll beiseite räumen und erklären: Liebe ist kein plötzliches Gefühl, keine romantische Illusion; sie hat mit Arbeit an sich selbst, mit Schleifen am Charakter, mit Nachdenken, mit Belastungsfähigkeit und mit Beharrlichkeit zu tun; sie entsteht nicht von selbst als Nebenprodukt eines Verliebtseins; sie bedeutet Ausgewogenheit in Geben und Nehmen, sie erfordert ein Mindestmaß an Gesprächsfähigkeit, also auch den Willen, sich selber mitzuteilen und sich in den anderen hineinzuversetzen, sich in eine andere Situation einzufinden. Kurzum: Liebe und Freundschaft muss man auch lernen. Liebe lernt man in den seltensten Fällen in der Schule, es gibt kein Lehrfach für diese größte und wichtigste Fähigkeit des Menschen.

Es gibt aber eine Schule des Lebens, die Familie. Das ist der Ort, wo der Mensch diese Fähigkeit sozusagen mit der Muttermilch einsaugt und durch das Beispiel (der Eltern, Geschwister, Verwandten, Freunde) wie durch Osmose verinnerlicht. Hier lernt er lieben und Freundschaft pflegen – oder auch nicht.

Die Tagespost