Die Werke der Barmherzigkeit (Einführung)

Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit nimmt Bischof Echevarria zum Anlass, die Werke der Barmherzigkeit zu betrachten. Um die 14 Ratschläge, die Jesus Christus und die Kirche uns gegeben haben, drehen sich die Beiträge auf dieser Webseite

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Das Außerordentliche Jubiläum, das Papst Franziskus ausgerufen hat, stellt die Barmherzigkeit ins Zentrum der Überlegungen zum Weg des Christen; und der Heilige Vater weist darauf hin, dass die Barmherzigkeit das „Schlüsselwort ist, um Gottes Handeln uns gegenüber zu beschreiben, denn er beschränkt sich nicht darauf, seine Liebe zu beteuern, sondern er macht sie sichtbar und greifbar“.

Jedes seiner Kinder kann die Erfahrung der Liebe Gottes im Lauf seines Lebens bezeugen, und ebenso, dass wir gerufen sind, mit Liebe auf diese seine Liebe zu antworten. Der Papst lädt alle ein, Träger der Barmherzigkeit Gottes zu sein, die wir immer wieder persönlich erfahren haben. Es genügt, daran zu denken, wie oft er uns im Sakrament der Beichte vergibt – nämlich immer. Daher sollten die nächsten Monate eine „Zeit der Gnade für die Kirche sein und helfen, das Zeugnis der Gläubigen stärker und wirkungsvoller zu machen“.

Diese Nähe Gottes darf niemals nur in Worten vermittelt werden, sie muss vielmehr täglich in Werken erfahrbar werden, im praktischen Verhalten jeden Tages, in jenen „Absichten, Einstellungen und Verhalten, die sich im tagtäglichen Leben bewähren“. Der Nachfolger Petri hat geäußert, dass „die Barmherzigkeit Gottes seiner Verantwortung für uns entspringt. Er fühlt sich verantwortlich, d.h. er will unser Wohl und Er will uns glücklich sehen, voller Freude und Gelassenheit. Auf der gleichen Wellenlänge – so fährt der Heilige Vater fort – muss die barmherzige Liebe der Christen liegen. Wie der Vater liebt, so lieben auch seine Kinder. So wie Er barmherzig ist, sind auch wir berufen, untereinander barmherzig zu sein“.

In dieser Perspektive erhalten die Werke der Barmherzigkeit, die Christus seiner Kirche anvertraut hat, ein ernst zu nehmendes Gewicht. Unser Herr – das „Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters“ – fordert die Christen auf, jederzeit aufmerksam die Augen auf ihn zu richten, mit dem Wunsch, uns mit seinem Leben zu verbinden und ihn nachzuahmen wie die Kinder ihre Eltern oder die älteren Geschwister nachahmen.

Der hl. Josefmaria, der Gründer des Opus Dei, widmete sich auf seinem irdischen Weg in der Nachfolge Christi leidenschaftlich den leiblichen und geistigen Werken der Barmherzigkeit. Nicht ohne Grund konnte er in einer seiner Homilien schreiben: „Wie verständlich sind die Ungeduld, die Beklemmung und die ungestümen Wünsche jener, die mit einer natürlich christlichen Seele nicht resignieren wollen angesichts der persönlichen und sozialen Ungerechtigkeit, die das menschliche Herz hervorbringen kann. So viele Jahrhunderte schon leben die Menschen zusammen, und noch immer gibt es so viel Hass, so viel Zerstörung, so viel Fanatismus in Augen, die nicht sehen, und in Herzen, die nicht lieben wollen.“

Im Anschluss zählte er einige der Übel auf, die die Welt quälen: „Die Reichtümer der Erde verteilt unter einige wenige, die Bildungsgüter einem kleinen Kreis vorbehalten und draußen Hunger nach Brot und Wissen. Draußen menschliches Leben, das heilig ist, weil es von Gott kommt, und das behandelt wird wie eine Sache, wie Zahlen in einer Statistik.“ So weit das Zitat des Gründers des Opus Dei.

Angesichts der Abwesenheit von Barmherzigkeit und echter Brüderlichkeit darf man sich nicht von Mutlosigkeit niederdrücken lassen, sondern sollte sich an den Ratschlag des hl. Johannes vom Kreuz halten: „Schenke Liebe, wo es keine Liebe gibt, und du wirst Liebe ernten.“ Wir alle sind gerufen ein anderer Christus, Christus selbst zu sein, in seinem Namen zu handeln und überall eine ansteckende Nächstenliebe zu praktizieren. In diesem Sinn wies der hl. Josefmaria auch darauf hin, dass Christus „uns ständig auffordert, jenes neue Gebot der Liebe zu verwirklichen. (…) In unseren Brüdern, den Menschen, müssen wir Christus sehen, der uns in ihnen begegnet. Kein menschliches Leben ist isoliert, sondern jedes ist mit allen anderen verflochten. Keiner ist wie ein bezugloser Vers, alle sind wir Teil ein und derselben göttlichen Dichtung, die Gott unter Mitwirkung unserer Freiheit verfasst“.

Vielleicht könnte jemand denken, dass die Fortschritte im Bereich der Sozialhilfe, des Gesundheitswesens, der Arbeitsorganisation usw. – vor allem in den hoch entwickelten Ländern – die traditionellen Werke der Barmherzigkeit unnötig und sogar überflüssig machen. Aber das ist keineswegs so! Selbst in den reichsten Ländern leben Menschen an der Schwelle der Armut, es fehlen ihnen die elementarsten Dienstleistungen oder sie leiden unter Einsamkeit und Verlassenheit, obwohl sie materielle Mittel besitzen. Mit großer Klarsicht machte der Gründer des Opus Dei schon vor vielen Jahren darauf aufmerksam, dass, wenn die Umstände einer geschichtlichen Epoche das Elend oder den Schmerz überwunden zu haben scheinen, die einfühlsame christliche Brüderlichkeit um so wichtiger wird, die zu erahnen weiß, wo jemand Trost braucht, selbst mitten im scheinbaren allumfassenden Wohlstand.

Im Laufe dieser Monate möchte ich mit Gottes Hilfe Betrachtungen zu den vierzehn leiblichen und geistigen Werken der Barmherzigkeit anstellen, so dass sie einen spürbaren Einfluss in unserem normalen Alltagsleben gewinnen. In den Ereignissen jeden Tages – bei der Arbeit, in der Familie, in den Beziehungen zu den Mitmenschen – lädt uns der Meister ein, ihm ähnlich zu werden. Auf diese Weise kann unser irdischer Weg mit Christus zu einer „Schule der Barmherzigkeit“ werden.