Betrachtungstext: Palmsonntag

Einzug des Herrn in Jerusalem – Der Esel ist Jesus am nächsten – Die Logik des göttlichen Reiches verstehen

DER HERR zieht in Jerusalem ein. Er, der sich stets gegen jede öffentliche Ehrerweisung gewehrt hatte, der sich verbarg, als das Volk ihn zum König machen wollte, lässt sich heute im Triumphzug führen. Erst jetzt, wo er weiß, dass der Tod nahe ist, lässt er zu, als Messias angerufen zu werden. Jesus weiß, dass er wahrhaft vom Kreuz aus herrschen wird, denn dieselbe Volksmenge, die ihm jetzt noch freudig zujubelt, wird ihn bald verlassen und zum Kalvarienberg führen. Die Palmen werden sich in Geißeln verwandeln, die Olivenzweige in Dornen, der Jubel in erbarmungslosen Spott.

Mit der Feier der Segnung der Palmzweige und den Messtexten einschließlich des Berichts über das Leiden unseres Herrn zeigt die heutige Liturgie uns auf, wie vereint Freud‘ und Leid, Jubel und Schmerz im Leben Jesu Christi sind. Die Kirche, so kommentierte der heilige Bernhard die Verschmelzung von Lachen und Weinen am heutigen Tag, „verbindet für uns heute (...) auf neue und wundervolle Weise die Passion mit der Prozession. Denn die Prozession bringt den Beifall mit sich, die Passion die Tränen“1.

Jesus zieht in Jerusalem ein, und die Einwohner nehmen Palmzweige in die Hand, um ihn zu empfangen (vgl. Joh 12,13). „Die Palmzweige bedeuten Verehrung“, erklärt der heilige Augustinus, „weil sie Zeichen des Sieges sind. Der Herr stand kurz vor seinem Sieg durch seinen Tod am Kreuz. Im Zeichen des Kreuzes überwand er den Teufel, den Fürsten des Todes.“2Und aufgrund dieses Sieges ist Christus unser Frieden,3 wie der heilige Josefmaria dazu anmerkt. Die Lektüre der Leidensgeschichte des Herrn führt uns viele Gestalten vor Augen. Damals ahnten nur wenige, dass Christus den Sieg erringen würde. Wir können uns in dieser Woche, in der wir diese Ereignisse nacherleben, mit Papst Franziskus fragen: „Wo ist mein Herz? Welchem dieser Menschen gleiche ich?4 Mit welchem Glauben blicke ich auf die gewaltigen Ereignisse, zu deren Betrachtung uns die Kirche in diesen Tagen einlädt?


DER TRIUMPHZUG birgt noch einen weiteren Kontrast: Inmitten der oberflächlichen und lärmenden Begeisterung sticht die stille Gestalt eines Esels hervor, der, treu und gehorsam, den Herrn trägt. „Ein Esel war der Thron Jesu in Jerusalem“, so gibt uns der heilige Josefmaria zu bedenken. „Seht, wie schön es ist, dem Herrn als Thron zu dienen.“5 Das arme Tier trabt mit dem anmutigsten Schritt, den es kennt, über Seide und Purpur, Leinen und feinstes Tuch, das die Menschen zu Ehren des Durchzugs des Herrn ausgebreitet haben (vgl. Mk 11,8). Doch während die anderen ihr Hab und Gut darbringen, bringt der Esel sich selber dar: Auf seinem struppigen Rücken trägt er das sanfte Gewicht Jesu. Neben ihm laufen die Menschen einher und schwenken grüne Olivenzweige, Palmen und Lorbeer. Aber niemand – nicht einmal die Apostel – ist dem Herrn so nahe wie er.

Wäre die Voraussetzung für die Herrschaft Jesu in deiner und meiner Seele, dass wir ihm eine würdige Wohnstätte in uns anbieten könnten, dann müssten wir verzweifeln“, schrieb der heilige Josefmaria. „Aber fürchte dich nicht, Tochter Zion, siehe, dein König kommt, sitzend auf einem Eselsfüllen (Joh 12,15). Seht ihr? Jesus ist zufrieden mit einem armen Tier als Thron. Ich weiß nicht, wie es euch geht; aber für mich ist es nicht erniedrigend, mich vor Gott als ein armer Esel zu fühlen: Wie ein Esel, so war ich vor dir. Nun aber bleibe ich immer vor dir, du hast mich ergriffen mit deiner Rechten (Ps 72,23-24), du führst mich am Halfterstrick. (...) Viele Tiere sind schöner, tüchtiger – und urwüchsiger. Christus aber hat sich einen Esel ausgesucht, um als König vor dem jubelnden Volk zu erscheinen. Denn Jesus weiß nichts anzufangen mit berechnender Schläue, mit der Grausamkeit eines kalten Herzens, mit augenfälliger, aber leerer Schönheit. Unser Herr schätzt die Freude eines jungen Herzens, den einfachen Schritt, eine Stimme ohne Falsch, klare Augen, ein Ohr, das sein liebevolles Wort sucht. So herrscht er in der Seele.“6

Wir möchten in dieser beginnenden Karwoche ein aufmerksames Ohr für die Stimme Gottes haben. Und nicht nur das Ohr, sondern alle unsere Sinne. Wir wollen in diesen Tagen, die unser Leben mit Sinn erfüllen, keine Geste, kein Wort, kein Gefühl von Jesus verpassen.


„WAS BEWEGT denn wirklich die Herzen derer, die Christus als den König Israels bejubeln?“, fragte Papst Benedikt in einer Predigt. „Sicher hatten sie eine eigene Vorstellung vom Messias, eine Vorstellung davon, wie der von den Propheten verheißene und lang erwartete König handeln müsse. Es ist kein Zufall, dass wenige Tage später die Menschenmenge von Jerusalem, anstatt Jesus zuzujubeln, Pilatus zuruft: ,Kreuzige ihn!‘ Selbst die Jünger wie auch andere, die ihn gesehen und ihm zugehört hatten, verstummen und sind verstört. Die meisten waren nämlich enttäuscht von der Art, die Jesus gewählt hatte, sich als Messias und König Israels zu zeigen. Genau hier liegt der Kern des heutigen Festes, auch für uns.“7

Die Erfahrung derer, die Jesus an jenem Tag mit Palmzweigen empfingen, kann uns helfen, darüber nachzudenken, welche Vorstellung wir von Jesus haben, welche Vorstellung wir von seinem Reich haben, was wir von seiner Macht und Gnade halten. Möglicherweise sind wir von der Art und Weise, wie die Erlösung vor sich geht, und ihrem scheinbar langsamen Tempo hin und wieder enttäuscht. Manchmal wünschten wir, dass Gott sofort triumphiert, und verwechseln unsere Pläne mit den seinen. Wir weigern uns, zu akzeptieren, dass Gott unsere Freiheit und die der Menschen um uns herum keinesfalls beeinträchtigen möchte. Seine Liebe ist so feinfühlig, dass sie sich nie aufdrängt. So nutzt er etwa den Jubel an diesem Palmsonntag nicht aus und zieht daraus keinen Vorteil.

Im Gegenteil, so Worte von Papst Franziskus: „Das Herz Christi ist auf einem anderen Weg, auf dem heiligen Weg, den nur er und der Vater kennen. (...) Er weiß, dass er für Gott Raum schaffen muss, um zum wahren Triumph zu gelangen.8 Es ist der Raum des stillen und doch machtvollen Handelns Gottes, der durch die Liebe des Sohnes zum Vater alles neu macht. Er vergießt diese Liebe und bietet sie dar, sogar bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,6-8). So herrscht der Herr. Und auf diesem Weg können wir – mit dem heiligen Josefmaria – die Gestalt der ersten und treuesten Nachfolgerin Jesu, seiner Mutter, betrachten: „Ihr werdet sie nicht beim Einzug in Jerusalem finden. (...) Aber sie flieht nicht vor der Verachtung auf Golgotha, sie steht da, iuxta crucem Iesu, unter dem Kreuze Jesu, seine Mutter.9 Und wir stehen – dank einer unverdienten Gnade – bei ihr.


1 Hl. Bernhard, Predigt zum Palmsonntag, 1, 1.

2 Hl. Augustinus, In Ioannis Evangelium tractatus, 51, 2.

3 Vgl. hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 73.

4 Franziskus, Predigt, 13.4.2014.

5 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, Okt. 1965.

6 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 181.

7 Benedikt XVI., Predigt, 1.4.2012.

8 Franziskus, Predigt, 14.4.2019.

9 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 507.