Betrachtungstext: 3. Woche der Fastenzeit – Freitag

Das Zeugnis des Schriftgelehrten – Eine Anleitung für unser Leben – Im Reich Gottes sein

VIELE Leute wandten sich mit Fragen an Jesus. Gelegentlich taten sie dies mit dem Ziel, ihm seine Worte noch im Mund umzudrehen. Diese Fragen entsprachen nicht dem aufrichtigen Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, sondern waren vom Neid motiviert, vom Eifer, ein Wort von ihm zu erhaschen, um ihn öffentlich anklagen zu können. Wir finden im Evangelium aber auch Menschen, die sich dem Herrn in aller Einfachheit nähern. So der Schriftgelehrte, der gesehen hatte, wie gut Jesus auf die Zwistigkeiten der Pharisäer und Sadduzäer antwortete. Deshalb stellte er ihm die Frage: Welches Gebot ist das erste von allen? (Mk 12,28) Anders als seine Vorredner trat dieser Schriftgelehrte nicht mit böser Absicht an Jesus heran. Sein Wunsch war, von diesem überaus weisen Mann eine Antwort auf eine entscheidende Frage zu erhalten, die unter den Rabbinern diskutiert wurde. Angesichts von sechshundert Regeln, die ein frommer Jude zu beachten hatte, war es nur logisch zu fragen, welche Vorschrift über allen anderen stehe.

Die aufrichtige Haltung dieses Schriftgelehrten wirft Licht auf die Sendung der Christen heute. Er war Zeuge der Wunder Jesu geworden und seine Aufgabe war es, ein guter Lehrer zu sein. Sein unvoreingenommenes Zeugnis dürfte vielen seiner Zeitgenossen geholfen haben, die Barrieren zu durchbrechen, die sie vom Herrn trennten. An ihm sehen wir, dass wir, wenn wir uns Jesus nähern wollen, nicht eisern an vorgefertigten Meinungen festhalten sollen und ihn auch nicht aufsuchen sollen, um unsere eigenen Standpunkte bestätigt zu sehen. „Die Sünde der Pharisäer“, schrieb der heilige Josefmaria, „bestand nicht darin, dass sie in Christus nicht Gott sahen, sondern dass sie sich willentlich in sich verschlossen und nicht duldeten, dass Jesus, das Licht selbst, ihnen die Augen öffnete.“1 Um Jesus hören zu können, müssen wir eine offene Haltung einnehmen, um unsere Urteile vom Licht seines rettenden Wortes her zu überprüfen.


DIE GEZIELTE Art und Weise, wie der Schriftgelehrte seine Frage stellte, lässt vermuten, dass ihn das Thema schon länger beschäftigte. Dieser Mann fragte nach dem, was im Leben wirklich wichtig ist. Und das möchte jeder wissen. Wir suchen Anhaltspunkte, Orientierungshilfen dafür, wie wir unser Leben gestalten sollen. Der heilige Josefmaria schreibt: „Vielleicht haben wir uns manchmal gefragt, womit wir so viel Liebe Gottes erwidern können; vielleicht haben wir dann auch den Wunsch nach einem klaren Leitfaden für das christliche Leben verspürt.“2

Gelegentlich können wir uns dabei aufhalten, Antworten auf Fragen zu suchen, die längst beantwortet sind. Und in der Tat antwortete Jesus dem Schriftgelehrten mit Worten, die sein Gesprächspartner vermutlich auswendig kannte, denn es war der Kern des Gesetzes, das Gott dem Volk durch Mose gegeben hatte: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken mit deiner ganzen Kraft (Mk 12,29 und vgl. Dtn 6,4-5). Zugleich knüpfte Jesus an dieses Gebot ein anderes, das den Juden ebenfalls bekannt war: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Mk 12,31 und Lev 19,18). Damit zeigte er auf, dass diese zwei Gebote so tief miteinander verbunden sind, dass sie ein einziges bilden.

„Die Gottesliebe ist das Erste, was geboten ist,“ sagte der heilige Augustinus, „und die Nächstenliebe das Erste, was praktiziert werden muss. (...) Du, der du Gott noch nicht siehst, wirst durch deine Liebe zum Nächsten würdig, ihn zu sehen. Die Nächstenliebe reinigt die Augen, um Gott zu sehen, wie Johannes deutlich sagt: Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht (1 Joh 4,20).“3 Unsere Mitmenschen lieben, ist der Weg, um den Herrn von ganzem Herzen zu lieben. Das war die Anleitung, die Jesus dem Schriftgelehrten gab und deren Maß er später selbst sein wird: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben (Joh 13,34).


NACHDEM Jesus die Frage des Schriftgelehrten beantwortet hat, wird nochmals klar, dass der Mann in rechter Absicht an den Herrn herangetreten war. Er reagiert begeistert und befriedigt: Sehr gut, Meister! (Mk 12,32) Diese Freude über das Panorama, das Jesus ihm eröffnet hat, veranlasst den Herrn selbst zu der Feststellung: Du bist nicht fern vom Reich Gottes (Mk 12,34).

Das ist kein geringes Lob. Auch für uns wäre es sehr tröstlich, aus dem Munde Jesu zu hören, dass wir nicht mehr weit von dem einzigen entfernt sind, das sich lohnt: mit ihm in seinem Reich zu sein. Genau darum bitten wir, wenn wir das Vaterunser beten: „Dein Reich komme.“ Die Formulierung macht deutlich, dass nicht wir zu ihm gehen und sich ihm nähern, sondern das Reich zu uns kommt, Gott die Initiative ergreift. Papst Franziskus weist darauf hin: „Der Herr kommt uns immer zuvor. (...) Wenn wir ihn suchen, entdecken wir diese Wirklichkeit: dass er da ist und uns erwartet, um uns aufzunehmen, um uns seine Liebe zu schenken.“4

Zudem hat Christus uns die Türen seines Reiches nicht aufgemacht, damit wir uns dort als Untertanen nützlich machen. Er will, dass wir mit ihm herrschen. So sagt die Heilige Schrift: Wer siegt, der darf mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie auch ich gesiegt habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe (Offb 3,21). Tatsächlich sahen schon die Psalmisten voraus, dass die Kinder Adams dazu bestimmt sein würden, gekrönt zu werden mit Pracht und Herrlichkeit (vgl. Ps 8,5-6). Dank der Lehre Jesu verstehen wir noch besser, dass dies der glückliche Ausgang für diejenigen sein wird, die ihren Nächsten im höchsten Maße lieben, denn das war die Lebensweise des Herrn: dienend herrschen. Maria verstand, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzt, um die Niedrigen zu erhöhen (vgl. Lk 1,52), das heißt diejenigen, die zu dienen wissen. Daher krönte er sie zur Königin des ganzen Universums.


1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 71.

2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 88.

3 Hl. Augustinus, In Ioannis Evangelium, 17,8.

4 Franziskus, Ansprache, 18.5.2013.