Betrachtung zu Pfingsten: Der Heilige Geist kennt keine Barrieren

Die Menschen, über deren Köpfen das Licht wie aus Feuerzungen steht, sind diejenigen, denen Gott den Auftrag gegeben hat, andere in den Dingen Gottes zu leiten – eine Auslegung der hl. Schrift von Monsignore Cesar Martinez.

Völlig unwissend, dass sie an diesem Tag etwas ganz Außergewöhnliches erleben würden, trafen die ersten Pilger bereits in den Frühstunden des Pfingstfestes in Jerusalem ein. Das Pfingstfest war bei den Juden ein ganz großes Fest. Viele pilgerten an diesem Tag nach Jerusalem, um Gott für all die Wohltaten zu danken, die sie von ihm im Jahr zuvor bekommen hatten. Darum war die Stadt an Pfingsten überfüllt. Selbst aus den Randgebieten und aus fern gelegenen Orten kamen viele Menschen an diesem Tag in die Hauptstadt. Die Apostelgeschichte berichtet von Parthern, Medern und Elamitern, von Bewohnern von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, wie auch von vielen anderen Orten, selbst Römer waren dabei. Das war die Kulisse, die Gott sich ausgesucht hatte, um der Menschheit eine wichtige Nachricht zu bringen, eine Mitteilung, die die Welt verändern würde. Offensichtlich wollte Gott diese Nachricht vor einer großen Menschenmenge aus allen Nationen bekannt machen, ein Hinweis darauf, dass es sich um eine universale Botschaft handelte.

In Jerusalem lag eine Spannung in der Luft

In diesem Jahr war das Fest jedoch von einer gewissen Spannung begleitet. Diesmal lag etwas in der Luft, ein Thema, das jeden beschäftigte und Anlass zu reichlichen und teilweise hitzigen Diskussionen, Kommentaren, Meinungsäußerungen und dergleichen mehr war. Es ging um Jesus von Nazareth, den die Führer des Volkes gekreuzigt hatten, über den seine Jünger und seine immer mehr werdenden Anhänger sagten, er sei auferstanden, er sei ihnen im Verlauf von vierzig Tagen mehrmals erschienen, habe mit ihnen gesprochen, seine Kreuzigungswunden betasten lassen, damit sie sich vergewisserten, dass er derselbe war, der gekreuzigt worden war. Er habe ihnen Ratschläge und Hinweise für die Zeit danach gegeben und sei schließlich in den Himmel aufgefahren. Jesus, so die Jünger, sei der Messias, der Israel und die ganze Menschheit von ihren Sünden erlösen sollte. Die Führer des Volkes hingegen sagten, er sei ein Aufrührer, der die Ruhe in der Gesellschaft schwer gestört habe und darum gekreuzigt werden musste. Das war der religiös-gesellschaftliche Rahmen, in dem das damalige Pfingstfest stattfand.

Wie Gott bei dem Geschehen von Pfingsten wirkte

Diese gereizte Atmosphäre war von Gott her gesehen – man staune! – die genau richtige Kulisse, um dem ganzen Volk die Augen für die Wahrheit des Lebens zu öffnen. Und wie geschah das? Wie hat Gott den Menschen seine Mitteilung zukommen lassen, und was war das für eine Mitteilung? Zunächst spannte Gott die unglaublich vielen Menschen, die sich in Jerusalem aufhielten, ein wenig auf die Folter, denn er wollte ihre Aufmerksamkeit gewinnen. Plötzlich – mir nichts, dir nichts – geriet der ganze Himmel über Jerusalem wie in einen Strudel, als hätte der Himmel sich geöffnet. Und es war auf einmal ein Brausen zu hören, das eindeutig „vom Himmel her kam“ (Apg 2,2). Es war ein Brausen, das immer stärker und hörbarer wurde, und das sich ortsübergreifend durch die ganze Stadt ausbreitete, damit kein einziger Mensch es überhörte.

Es war eine Botschaft für alle

Die Botschaft, die Gott an diesem Tag der Menschheit verkünden wollte, war nicht nur für eine kleine Gruppe handverlesener Leute gedacht, sondern für jeden einzelnen Menschen ohne Ausnahme. Pfingsten war der Anfang der Verkündigung der Kirche, einer Verkündigung über Jesus von Nazareth, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte ausbreiten sollte. Joseph Ratzinger, der spätere Benedikt XVI., unser heute emeritierter Papst, sagte einmal, dass die Geschichte der zeitliche Rahmen sei, in dem diese Verkündigung geschieht, immer mehr, immer weiter, immer umfangreicher, bis zum letzten Tag der Geschichte. Am Ende der Zeiten soll das Evangelium jedem Geschöpf verkündet worden sein.

Die Evangelisierung der Welt begann an Pfingsten

Die Evangelisierung der Welt beginnt am Pfingstsonntag in Jerusalem mit der begleitenden Erscheinung des Brausens aus der Höhe. Sie entwickelt sich durch die Geschichte hindurch und wird stets – auch heute – von einer Kraft aus der Höhe begleitet. Diese ist – ähnlich wie das Brausen des ersten Pfingsttages – die Aufmerksamkeit derjenigen gewinnt, auf die der Geist herabkommen soll oder bereits herabgekommen ist. Das dem Brausen von damals ähnliche und klar spürbare Phänomen begleitet auch heute die Herabkunft des Heiligen Geistes auf Personen und Institutionen. Zwar ist dieses „neue Brausen“ je nach Zeit und Person sehr unterschiedlich, doch von Betroffenen durchaus wahrnehmbar. Meistens geschieht das dadurch, dass eine tiefe Freude und Gelassenheit in die Seelen einzieht. Solche Empfindungen sind zwar nicht alltäglich, doch der Glaube bestätigt uns, dass Gott, wenn wir den Heiligen Geist empfangen, in uns ist, in uns wirkt und uns so umgestaltet, dass wir bessere Menschen und bessere Christen werden. Wer dies weiß, der ist – auch beim Fehlen von sinnlich beglückenden Empfindungen – existentiell glücklich.

Das Pfingstereignis war übernatürlich

Was fällt uns noch auf, wenn wir uns in das Geschehen des Pfingstfestes in Jerusalem hineinversetzen? Was dort geschieht, ist etwas Übermenschliches. So etwas kann man nicht inszenieren. Das kam von oben. Ja, meine lieben Freunde, so ist es: Das Christentum kommt von oben, vom Himmel her, wie das Brausen in Jerusalem (Apg 2,2). Unser Glaube ist nicht bloß ein Konzentrat von Vernunft, Lebenssinn, Humor, Arbeitsethos und Familiensinn. Das Christentum ist keine bloß menschliche Angelegenheit. Es ist offensichtlich eine übernatürliche Instanz. Das Brausen kam ja eindeutig vom Himmel (Apg 2,2), also von oben, nicht von unten. Unsere Kirche ist ein übernatürliches Phänomen, bei dem jedoch Menschen mitarbeiten. Dass manche Mitarbeiter große Sünder sind, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass die Kirche übernatürlich ist. Denn Gott selbst hat in der Kirche den Vorsitz.

Und noch eines fällt uns beim Erleben des Pfingstsonntags in Jerusalem auf: dass Gott seine Botschaft nicht nur einigen Wenigen zugänglich macht, sondern offensichtlich allen Menschen. Das Christentum ist nicht nur für ein paar Leute gedacht, für eine Minorität, sondern für alle Menschen. Jesus ist für einen jeden gekommen, nicht nur für ein paar handverlesene Leute. Das Christentum ist katholisch. Katholisch bedeutet universal, unbegrenzt, groß, nicht limitiert. Zwar sind wir Christen mit 2,2 Milliarden Menschen die größte religiöse Gemeinschaft weltweit, doch – was ist das vor dem Hintergrund der Weltbevölkerung? Es ist also noch viel zu tun; denn noch wissen die meisten Menschen auf unserem Planeten nicht, dass Jesus der Messias ist.

Der Weg führte zu den Aposteln

Das Brausen war so stark und offenbar so einladend, dass die Menschen dorthin gingen, wo es herkam, und sie kamen zu den Aposteln. Als sie sie sahen, mussten sie wieder einmal staunen, denn – oh Wunder! – über den Köpfen der Jünger war so etwas wie Zungen von Feuer zu sehen, auf jedem Kopf eine, wie das viele Maler eindrücklich dargestellt haben! So etwas hatte man noch nie gesehen, es war alles so eigenartig. Auch wir sind erstaunt. Wir fragen uns: Warum die Zungen auf den Köpfen? Was für einen Sinn haben diese Feuerzungen? Gott tut nichts ohne Grund. Auch das mit den Feuerzungen hat seine Bewandtnis und seine Erklärung. Diese Zungen ließen die Apostel zweifellos in den Vordergrund der Aufmerksamkeit der Zuschauer rücken. Und ich meine, es ist nicht allzu gewagt, es so zu deuten, als würde der Geist den dort Anwesenden dadurch klar machen wollen: „Diese Menschen da – über denen die Feuerzungen stehen –, das sind die Menschen, auf die man besonders achten muss. Sie sind die Menschen, die euch etwas Wichtiges vom Himmel her zu verkünden haben; hört auf sie, sie haben euch eine Botschaft mitzuteilen. Sie leuchten, damit die Menschen sie nicht übersehen, bzw. sie nicht mit anderen verwechseln“.

Am Pfingsttag erleben wir die Anfänge der Kirche. Der Pfingsttag gilt als der Gründungstag der Kirche. Und es ist kein Zufall, dass Gott uns gleich bei der Gründung der Kirche darauf aufmerksam macht, dass unsere Glaubensgemeinschaft, die Kirche also, eine hierarchische Kirche ist. Die Kirche stellt eine Ordnung dar, deren Anfang im Himmel ist und deren Grundfesten endgültig festgelegt sind. Sie sind nicht veränderbar. Die Kirche ist in ihren Fundamenten nicht demokratisch – das muss man wissen, sonst kommt man ins Schleudern und in Erklärungsnot. Die Kirche ist keine politische Instanz und kommt nicht von unten. Sie hat in dieser Welt eine Struktur und ist keine rechtsfreie Zone. Das Recht in der Kirche ist vor allem das göttliche Recht, das heißt die Ordnung, die Gott selber, nicht der Mensch, erlassen hat. Diese Menschen, über deren Köpfen das Licht steht, sind diejenigen, denen Gott den Auftrag gegeben hat, andere Menschen in den Dingen Gottes zu leiten. Auf sie soll der Christ hören. Denn sie handeln in der Leitung des Volkes nicht nach eigenem Gusto, nach eigenem Dafürhalten oder Einsehen, sondern in der Person Jesu Christi selbst. Sie handeln an Jesu statt. „Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20,21), hat Jesus zu den Aposteln noch vor seinem Leiden gesagt. Jetzt, am Pfingsttag in Jerusalem, wurde es amtlich: Die Apostel haben in der Kirche eine besondere Position. In der Ausübung ihres Amtes handelt Gott durch sie.

Petrus ist derjenige, der das Wort ergreift

Nun trat Petrus zur allgemeinen Verwunderung der vielen Pilger auf und sagte im Brustton der Überzeugung: „Mit Gewissheit erkenne das ganze Haus Israel: Gott hat Jesus zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg 2,36). Das war also die Botschaft des Petrus oder die Botschaft, die Gott der ganzen Menschheit am Gründungstag der Kirche mitteilen wollte. Jesus ist Gott! Dass ist die Erkenntnis, die die Welt verändern kann. Mit Jesus Christus beginnt eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit. Es ist die Ära, in der die Menschen erkennen dürfen, dass Gott nicht bloß da oben ist, wo die Sterne leuchten. Der Himmel hat sich tatsächlich geöffnet und eine Verbindung zwischen oben und unten ermöglicht. Es ist eine zwischen Himmel und Erde, und diese Verbindung ist eine Person: Jesus Christus. Mit ihm dürfen wir nunmehr problemlos umgehen wie man mit einem Freund und mit einem Bruder umgeht. Das ist die Ära des Christentums. In dieser Ära leben wir.

Die Annäherung Gottes an die Menschen, die der Hauptinhalt des christlichen Glaubens ist, beschränkt sich nicht bloß auf das intellektuelle Wissen, oder darauf dass Gott uns nach seiner Himmelfahrt nicht den Rücken gekehrt hat. Das Christentum lässt uns etwas noch viel Tieferes erkennen: Gott ist den Menschen so nahe gekommen, dass wir die Hauptzüge der Persönlichkeit Jesu in unserer eigenen Person nachzeichnen können, jeder auf seine ganz individuelle Weise. Das ist zweifellos der Höhepunkt der menschlichen Würde: wir dürfen Jesus, das heißt Gott, nicht nur bewundern, wir dürfen ihm sogar im Rahmen unserer eigenen Identität ähnlich werden. Ist das eine Größe, ist das eine Würde!

Ist das überhaupt möglich? Sind diese Gedanken nicht eine Übertreibung? Das ist keine Übertreibung! Der Umkehrschluss zeigt es deutlich: Haben wir uns irgendwann gefragt, warum die Welt so oberflächlich, mitunter sogar so langweilig und witzlos, ja so ungerecht, kalt und unbarmherzig ist? Kann es nicht sein, dass solche Umstände daher kommen, dass die meisten Menschen keine persönliche Beziehung zu Gott pflegen? Wer sich auf einen freundschaftlichen Umgang mit dem großen Gott, der uns in Jesus Christus Bruder und Freund geworden ist, eingelassen hat, der kennt diese Probleme nicht, denn der Heilige Geist – weil er selber Gott ist – schafft beim Einzug in die Seele des Gläubigen von selbst eine persönliche Beziehung zu ihm.

Jesus sagte seinen Jüngern vor seinem Tode, es sei gut, dass er fortgehe; denn wenn er nicht fortginge, dann würde er ihnen nicht den Heiligen Geist senden können, den wir erfahrungsgemäß dringend brauchen, um ein vollendetes Leben auf Erden zu führen.

Möge Maria, die Braut des Heiligen Geistes, uns zu einem tieferen Erkennen und Erfassen dessen verhelfen, was der Heilige Geist in unserem Inneren bewerkstelligen kann. Es ist nämlich viel. Es lohnt sich, ihn zuzulassen, damit er uns umgestalte, so dass wir Jesus Christus in unserem Denken und Verhalten immer ähnlicher werden. CM

(Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Cesar Martinez: „Ich bleibe bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt - Stimmt das?“ Christiana Verlag bei Fe-Verlag, Kisslegg 2021. Kartoniert / Broschiert ISBN-13: 9783717113430, 446 Seiten, 10 Euro.