Nur mit einem Kompass im Wald unterwegs

Finnland konnte seine Freiheit und Eigenständigkeit trotz einer russischen Militärinvasion im Winterkrieg 1939 und 1940 behaupten. Seppo Rotinen erzählt von seiner Geburtsstadt Ilomantsi, wo eine entscheidende Schlacht stattfand. Dort verlebte er seine Jugend und zog mit 20 Jahren für ein Medizinstudium nach Wien, wo er der erste Finne im Opus Dei wurde. Seine Rückkehr in die Heimat brachte die Prälatur nach Finnland.

Vom November 1939 bis zum März 1940 fand der Krieg zwischen Finnland und Russland statt, der als „Winterkrieg“ in die Geschichte einging. Diese Attacke auf den Gürtel von Finnland – so nannte es Churchill – entwickelte sich für die Angreifer zu einer Katastrophe, denn die finnischen Soldaten waren passend für den bitterkalten Winter mit Skiern und angemessener Kleidung ausgerüstet. Außerdem kämpften die Finnen mit allem Einsatz und waren gut durchtrainiert. Als die russischen Truppen mehr als fünfzig Kilometer ins Innere des Landes eingedrungen waren, fielen finnische Truppen über sie her und Ende Dezember war der russische Versuch, den Gürtel zu überschreiten, gescheitert.

Ein Jahr danach, im Juli 1941, ging der Konflikt noch einige Zeit weiter. Ilomantsi, der Ort wo ich geboren wurde und aufwuchs und den meine Familie wegen des Krieges verlassen hatte, verwandelte sich in ein Schlachtfeld mit heftigen Kämpfen, die bis zum 13. August weitergingen, und ebenfalls abgewehrt wurden. Es war die letzte große Attacke der feindlichen Truppen.

Meine Eltern ließen mich in Nordkarelien studieren

Der Krieg wurde am 19. September 1944 beendet und ich wurde wenige Monate später geboren, nachdem meine Familie wieder nach Ilomantsi zurückgekehrt war und das Leben auf dem Bauernhof wieder seinen normalen Weg ging. Wie in jeder großen Familie gehörte dazu das Lachen und Streiten der Kinder. Ich wäre mein ganzes Leben lang auf unserem Bauernhof geblieben, wären da nicht meine Eltern gewesen. Ich liebte es, während des Sommers in den Seen zu tauchen. Auch hätte ich jeden Winter gerne versucht, den Mädchen mit meinem Skispringen zu imponieren, so wie es meine großen Brüder machten. Aber es gab Frau Helmi, meine Mutter, die sich, genau wie Herr Rotinen, mein Vater, in den Kopf gesetzt hatten, dass diejenigen von uns, die die Fähigkeiten dazu hatten, trotz der bescheidenen finanziellen Situation zur Universität gehen sollten. Und da ich ein guter Schüler war, entschieden sie, mich zum Studium in die Hauptstadt von Nordkarelien, nach Joensum, zu schicken. Tatsächlich war ich der Einzige aus meiner Schule, der dorthin ging.

Reise nach Joensum: eingehüllt wie eine Wurst in mehrere Pullover

Leider nützten meine Proteste nichts und in wenigen Tagen war ich für die Expedition vorbereitet. Eingehüllt wie eine Wurst in mehrere Hemden und Pullover, mit einem Mantel, der für den Nordpol geeignet war, die Ohren gut geschützt durch eine Wollmütze, die über die Ohren ging. Ich hatte eine Milchkanne dabei und einen Korb mit Schwarzbrot und hausgemachter Butter, um die Hungerattacken während des Unterrichts zu bekämpfen, denn die Verpflegung, die wir in der Nachkriegszeit in den Schulen bekamen, war nicht gerade reichhaltig.

In Joensum ging es mir gut, auch wenn ich das freie Leben vermisste. Danach kam der Militärdienst an einer offiziellen Militärschule, die einige hundert Kilometer im Süden lag. Dort lebte ich ein Jahr in der Natur, mich von meinem Kompass leiten zu lassen. Mich steckte man in eine Armee, deren Namen man mit „die Krieger an der Front“ bezeichnen könnte, wo ich eine sehr glückliche Zeit verbrachte.

Wieso ich Medizin in Österreich studieren konnte

Als ich den Militärdienst beendet hatte, gab es für mich ein Problem: Es gab nur drei medizinische Fakultäten in Finnland. Deren Kapazitäten reichten nicht aus, um alle aufzunehmen, die den Wunsch hatten, Arzt zu werden. Die Regierung sah diesen Engpass nach finnischer Art pragmatisch. Sie entschied, dass es preiswerter sei, einigen Studenten ein Stipendium im Ausland zu bewilligen, als im eigenen Land eine neue Fakultät zu errichten. So gab es Auslandsstipendien der Regierung für einige Studienplätze in Medizin. Ich meldete mich und erhielt ein Stipendium zum Studium in Österreich.

Wien wirkte auf mich wie das Leben in einem Traum

Damals war ich zwanzig Jahre alt, und als ich in Wien ankam, erschien mir das Leben in Österreich wie ein Traum: die Ringstraße, die Oper, der Prater, der Stadtpark und die Statue von Johann Strauss … Ich fühlte mich wie auf einem anderen Planeten. So fasste ich den Vorsatz, abgesehen von den guten Noten, die ich erreichen musste, mich mit der Wiener Kultur zu beschäftigen, vor allem mit der Musik. ‚Jetzt oder nie‘, dachte ich. (Die Möglichkeit, das Examen nicht zu bestehen, kalkulierte ich nicht ein, denn ich hatte weder das Geld, um Weihnachten nach Hause zu fahren, noch um die Immatrikulationsgebühren zu bezahlen, und wenn ich die Prüfung nicht bestand, bedeutete das das Ende meiner Karriere.)

Das Tempo des Lebens in Wien war sehr intensiv

Mich erstaunte das Tempo des Wiener Lebens, viel zu intensiv für einen Jungen wie mich, der so viel studieren musste. Das akademische Niveau war sehr hoch – nur die Hälfte der Studenten beendeten das Studium – und alle Prüfungen waren mündlich. Hinzu kam in meinem Fall das Sprachproblem… Bis eines Tages mein Freund Timo mir vom Studentenheim Birkbrunn erzählte, wo er wohnte. ‚Warum kommst du nicht mal zu uns?‘, fragte er mich. ‚Da ist eine gute Arbeitsatmosphäre, die hilft zu lernen.‘ Er kommentierte, dass das Haus von Katholiken geleitet würde, was mir gar nichts sagte, außer, dass bei mir ein paar negative Schlagwörter aus meiner Schulzeit hängen geblieben waren.
Mir gefiel die Atmosphäre in einem katholischen Studentenheim

Das Klima dort im Studentenheim gefiel mir, es herrschte dort eine Studienatmosphäre, bei der man auch Freude spürte. Kurze Zeit später zog ich dorthin um. Ich wohnte mit Studenten und Berufstätigen zusammen, die großes kulturelles Interesse hatten, wie Ernst Burkhart, ein junger Jurist, der mir von Josefmaria Escrivá, der damals in Rom wohnte, und seiner Botschaft der Heiligung der Arbeit erzählte.

Die Religion bestand nicht nur aus Riten, sondern verlieh einen Lebenssinn

Ich las den ‚Weg‘, der eine tiefe Spur in mir hinterließ, und ich entdeckte, dass die Religion nicht aus einer Anzahl von Riten besteht, sondern dem Leben einen Sinn verleiht, eine Begeisterung und eine Lebensart. Und ich hörte zum ersten Mal das Wort „Opus Dei". In Birkbrunn wohnte ein katalanischer Priester, Johannes Torelló, der vor seiner Priesterweihe in Spanien Medizin und Psychiatrie studiert hatte. Er hatte eine Reihe Bücher geschrieben, die mich interessierten, und ihm verdanke ich meinen Kontakt zu einem Freund von ihm, dem jüdischen Psychiater Viktor Frankl. Frankl hatte sehr viel Prestige, er ist der Gründer der dritten Wiener Schule für Psychotherapie, nach Freud und Adler.
Viktor Frankl war eine beeindruckende Persönlichkeit

Die menschliche und intellektuelle Persönlichkeit Frankls hat mich fasziniert. Er hatte ein Konzentrationslager überlebt und war der Autor des sehr bekannten Buches: ‚Der Mensch auf der Suche nach Sinn‘. Dort beschreibt er sein Leben voller Tragödien[1] aus der Sicht des Psychiaters. Er beeindruckte mich so sehr, dass ich mit anderen Medizinstudenten in Birkbrunn einen Klub aufbaute, um Logotherapie zu studieren. Ihre Lehre beruht darauf, dass die Suche nach einem Sinn die erste Motivation für den Menschen ist.

Ich war auf zwei Persönlichkeiten gestoßen, die mein Leben veränderten

Diese beiden Persönlichkeiten, Escrivá und Frankl, haben mich in unterschiedlicher Hinsicht tief geprägt: Im Geistlichen und im Beruflichen. Ich lernte viel von der anthropologischen Sichtweise Frankls, die immer einen großen Respekt vor dem Christlichen hatte. Ich verstand die Gedanken Frankls durch seine Worte, die mit ihm als dem Gründer der Logotherapie übereinstimmten. Fast gleichzeitig verstand ich die Botschaft des heiligen Josefmaria, weil die Personen des Opus Dei sie mir vorlebten. Wie viele Christen meiner Zeit dachte ich, dass es ausreiche, wenn ich den Sonntagsgottesdienst besuchte, während mein wirkliches Leben – meine Familie, mein Beruf, meine sozialen Beziehungen – nichts damit zu tun hätten.

Escriva sprach von einer christlichen Ganzhingabe mitten in der Welt

Ich verstand, dass Escrivá von einer Ganzhingabe inmitten der Welt sprach, so wie es die ersten Christen gelebt hatten, mit dem Eifer, Christus in alle menschlichen Tätigkeiten hineinzunehmen. Es ging nicht um die Erfüllung einer Reihe von Pflichten oder darum, Gott eine Stunde in der Woche zu widmen, sondern darum, das ganze menschliche Leben, die familiären und sozialen Beziehungen, die Arbeit, die Erholung mit Gott und mit Liebe zu Ihm zu erfüllen.

Leute vom Opus Dei: unterschiedlich und wie mit einer inneren Sinfonie verbunden

Das menschliche Verhalten der Leute vom Opus Dei erschien mir aus der psychologischen Perspektive sehr interessant. Jeder von ihnen hatte seine Besonderheiten, seine Tugenden und Fehler, sie waren sehr unterschiedlich, aber sie waren wie durch eine innere Symphonie miteinander verbunden: durch das Leiden Christi. Eines Tages stellte sich mir die Frage, ob ich zum Opus Dei gehören wollte. Ich hatte ebenfalls den Wunsch, mich anzustrengen, in jedem Moment meinen Glauben, den ich in der Taufe erhalten hatte, konsequent zu leben, im Alltag, im Beruf, in der Familie,auf der Straße

Escriva – ein tief menschlicher und geistlicher Priester

Ich entdeckte die Persönlichkeit Escrivás, eines Mannes der Kontraste, der Gegensätze, ohne widersprüchlich zu sein. Eine spanische Schriftstellerin definierte ihn einmal als einen Priester, der sich genauso bei der Wandlung von Brot und Wein verausgabte wie beim Hören der Nachricht, dass die Sowjets in der Tschechoslowakei eingerückt waren. Ein Mann, der seine Briefe mit ‚der Sünder Josemaría‘ unterschrieb und der beim Lesen der Zeitung über die Sünden der Menschen weinte. Das bedeutet, er war als Priester tief menschlich und zugleich tief geistlich.

Ich war nicht katholisch, wollte nach Finnland zurückkehren und vom Opus Dei sein

Mein Wunsch, dem Opus Dei anzugehören, stieß auf zwei Hindernisse, die, wenn man realistisch ist, jeden mutlos gemacht hätten. Erstens war ich nicht einmal katholisch und zweitens, so sehr mich auch das alles begeisterte, Mitte der 1960er-Jahre gab es niemanden vom Opus Dei in Finnland, wohin ich nach Beendigung meiner Studien zurückkehren wollte.
Dann wurde ich der erste Finne vom Opus Dei

Mir erscheint es noch immer wie ein Wunder, dass mir der Herr in jenen Momenten Licht schenkte: Zuerst einmal, dass ich den Schritt tat, in die katholische Kirche einzutreten und wenige Monate später um die Aufnahme ins Opus Dei zu bitten. Ich war der erste Finne des Opus Dei. Ich war glücklich und gleichzeitig erschrocken, denn ich wusste, dass man in meinem Land alles erst aufbauen musste. Und damit ich die notwendige geistliche Bildung empfangen konnte, musste ich – oder ein anderer – tausende Kilometer zurücklegen.

‚Mach dir keine Sorgen‘, sagte man mir, ‚wenn es notwendig ist, dreitausend Kilometer zu fahren, machen wir das.‘

Theo Irrgang hörte in Finnland Beichte und redete mit Freunden von mir

Ich dachte, das sei nur eine Phrase, aber nein, kurze Zeit später wurde es wahr. Ich beendete mein Studium, heiratete Carmen und zog nach Finnland. Und wie man mir gesagt hatte, kam ein Priester des Opus Dei, Theo Irrgang, regelmäßig, um mich und einige andere zu betreuen, die man an einer Hand abzählen konnte. Und da waren sogar noch Finger übrig … Er hielt den Einkehrtag, hörte Beichte, unterhielt sich mit katholischen und nicht katholischen Freunden von mir, die wir inzwischen kennengelernt hatten. Die meisten von uns waren jung, Berufstätige, die gerade frisch verheiratet waren.

Eigentlich schien mir dieser Plan ziemlich verrückt

Bei seiner ersten Reise legte er 3288 Kilometer zurück. Es waren die ersten Schritte des Opus Dei in Finnland, ein Akt des Glaubens. Ich sah nichts, so wie man in einem Schneesturm nichts sieht. Menschlich gesehen, erschien es verrückt, zu denken, dass die katholische Kirche aufhören würde, eine kleine, unbekannte Minderheit zu sein, und dass konkret das Opus Dei in Finnland Fuß fassen würde. Vielleicht in einigen Jahrhunderten … Die Früchte werden in vielen Jahren kommen, so dachte ich. Und ich werde es nicht mehr erleben.

Dann kam der erste finnische Priester des Opus Dei

Vor einigen Tagen sah ich im Internet das Interview mit Oskari, dem ersten finnischen Priester des Opus Dei, worüber ich mich sehr freute. Vor einigen Jahren war das für mich noch undenkbar. Und jetzt, wo ich schon Großvater bin (noch dazu dreifach, denn meine Enkelkinder sind Drillinge) sehe ich, dass Gott alles gemacht hat, noch dazu dreimal mehr, als ich gedacht hatte.“


aus: Warmer Nordwind: Lebenszeugnisse von Christen in den nordischen Ländern / José Miguel Cejas ; aus dem Spanischen von Helga Kegel und Janni Büsse, fe-Medienverlag, Kisslegg 2018 (mit freundlicher Genehmigung) [1] Sein Vater war in Theresienstadt den Hungertod gestorben, seine Mutter in der Gaskammer in Auschwitz, sein Bruder verschwand in einem anderen Lager. Seine erste Braut, Tilly, starb während der Befreiung des KZs Bergen-Belsen, sie wurde von der Menge totgetrampelt.