Thema 6. Der Mensch, Bild Gottes

Der Mensch ist das einzige Geschöpf auf Erden, das mehr als nur Materielles und Endliches erkennen und lieben kann. Wenn Gott uns mit Geist erschaffen hat, dann zu dem Zweck, dass wir ihn erkennen und lieben. Die Erschaffung des Menschen nach dem Bild Gottes impliziert die Möglichkeit einer gegenseitigen Beziehung und Kommunikation. Da der Mensch als Bild Gottes an ihm, der Liebe ist, Anteil hat, ist er zur Liebe fähig.

1. Der Mensch, nach dem Bild Gottes erschaffen

Das Buch Genesis sagt: «Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie»1.

Zweifellos liegt hier eine höchst bedeutsame Offenbarung vor. Nach der Erschaffung der materiellen, der pflanzlichen und der tierischen Welt erschafft Gott – auf die Engel gehen wir jetzt nicht ein – den Menschen. Es gibt eine klaren und radikalen Unterschied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen. Nur die Menschen sind Bild Gottes. Sie spiegeln von Gott mehr wider als die Tatsache, dass er sie erschaffen hat. Sie haben auf erhabenere Weise Anteil an der Gottheit als die nicht-menschliche Natur, auch wenn diese Ähnlichkeit den Unterschieid zwischen Mensch und Gott natürlich nicht aufhebt. «Die nach dem Bilde Gottes erschaffene menschliche Person ist ein zugleich körperliches und geistiges Wesen. Der biblische Bericht bringt das in einer sinnbildlichen Sprache zum Ausdruck, wenn er sagt: “Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen” (Gen 2,7)»2.

Diese Mittelstellung des Menschen zwischen der materiell-tierischen Welt und Gott kann auf zweierlei Weisen geleugnet werden. Im ersten Fall erhebt sich der Mensch zum absoluten Herrn über sich selbst und über die Schöpfung; im zweiten Fall betrachtet er sich als simples Produkt der tierischen Evolution, wie komplex man diese auch auffassen mag, ohne Spiritualität und Freiheit.

Um diese beiden Irrtümer zu vermeiden und diese Glaubenswahrheit leichter annehmen zu können, genügt es, darüber nachzudenken, wie wir uns selbst erleben.

Einerseits erfahren wir viele offensichtliche Beschränkungen, die unsere Endlichkeit mit sich bringt. So können wir beispielsweise nicht alles erreichen, was wir wollen (es gibt äußere und innere Hindernisse); wir sind mit vielen Dingen konfrontiert, die wir weder lenken können noch wollen noch vorhersehen; wir leben in einer Abfolge von Ereignissen im Lauf der Zeit, die wir weder umkehren noch aufhalten können. Unsere Endlichkeit ist also evident.

Andererseits gibt es Aspekte unseres Lebens, die nicht weniger offensichtlich diese Endlichkeit überschreiten und das Unendliche durchscheinen lassen. Zunächst stellen wir das erstaunliche Faktum fest, dass wir, obwohl wird endlich sind, davon wissen und uns dessen bewusst sind. Dass wir aber wissen, dass wir endlich sind, kann nur daher kommen, dass unser Verstand irgendwie die Grenzen der eigenen Endlichkeit überschreitet. Außerdem können wir zwar, wie zuvor gesagt, viele unserer Wünsche nicht verwirklichen, können sie aber sehr wohl konzipieren und erstreben, auch wenn es sich um unerfüllbare Vorhaben handelt. Wir werden immer wieder mit unkontrollierbaren Ereignissen konfrontiert, aber wir können diesen widerstehen oder uns innerlich gegen sie stellen. Die Zeit vergeht und ist für uns zwangsläufig unwiederholbar, aber wir leben, seit wir denken können, ständig und dauernd im “Jetzt”, von dem aus wir dem Vergangenen und bis zu einem gewissen Maß auch dem, was auf uns zukommt, einen Sinn geben.

Wir sind also zweifellos endlich und leben in einer endlichen materiellen Welt, haben aber auch die Fähigkeit, uns von den Bedingungen dieser Endlichkeit zu distanzieren oder zu lösen. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass wir geistig sind. Und daran erkennen wir etwas, das uns Gott ähnlich macht, der unendlicher und absoluter Geist ist.

Ein gewisser Humanismus vertritt die Auffassung, dass der Mensch zwar Geist hat und dass dieser mehr oder wenig erleuchtet ist, dass er aber nicht Bild Gottes und daher auch nicht auf ihn hingeordnet ist. Diese Vorstellung ist problematisch; und zwar sowohl theoretisch, weil der Geist wesentlich am Absoluten Anteil hat und auf das Absolute ausgerichtet ist, als auch praktisch, weil die persönliche und historische Erfahrung zeigt, dass ein Bruch der Beziehung zu Gott mit der Auflösung der Menschenwürde endet. «Hier auf Erden gibt es – ohne eine weitere Alternative – nur zwei Möglichkeiten: entweder ein übernatürliches oder ein animalisches Leben zu leben»3.

2. Der Mensch: aus Liebe und für die Liebe erschaffen

Wenn Gott den Menschen als sein Bild erschuf, impliziert das zwei grundsätzliche Feststellungen: Wir wurden aus Liebe und für die Liebe erschaffen.

Erstens: Wenn Gott vollkommen und absolut ist, benötigt er nichts und niemanden. Er ist also absolut transzendent und frei. Er hat weder die Welt noch den Menschen aus Notwendigkeit geschaffen, sondern aus freiem Entschluss. Die Schöpfung ist ein Geschenk Gottes. Man kann auch sagen, sie ist ein Werk seiner Liebe. Wir müssen die häufig auftretende Versuchung zurückweisen, Gott oder den Willen Gottes nach unserer Logik zu beurteilen.

Zweitens: Wenn Gott uns nach seinem Bild geschaffen hat, dann um eine Beziehung zum Menschen zu ermöglichen. Wenn Gott uns also, weil er uns mit Geist ausstattet, die Fähigkeit gibt, über das Materielle und Endliche hinaus zu erkennen und zu lieben, dann will er, dass wir ihn erkennen und lieben. «Von allen sichtbaren Geschöpfen ist einzig der Mensch ‚fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben‘ (Gaudium et spes, 12,3); er ist ‚auf Erden das einzige Geschöpf … das Gott um seiner selbst willen gewollt hat‘ (Gaudium et spes, 24,3); er allein ist berufen, in Erkenntnis und Liebe am Leben Gottes teilzuhaben. Auf dieses Ziel hin ist er geschaffen worden, und das ist der Hauptgrund für seine Würde»4.

Von einem anderen Gesichtspunkt aus kann man sagen, dass die Erschaffung des Menschen nach dem Bild Gottes die Möglichkeit zu gegenseitiger Beziehung und Verständigung impliziert. Die Initiative zu einer solchen Kommunikation kann jedoch, wenn sie sich auf das Innerste Gottes beziehen soll, nur von Gott ausgehen, da für das natürliche Erkennen die Innerlichkeit Gottes nicht zugänglich ist (was übrigens für jede Innerlichkeit gilt, wenn sich diese dem Menschen nicht öffnet). Das aber hat Gott wirklich getan: Er hat sich uns geoffenbart und uns sein innerstes Wesen kundgetan. Am deutlichsten übermittelt uns der heilige Johannes diese tiefe Offenbarung, wenn er schreibt: «Gott ist Liebe»5.

Das bedeutet, dass der Mensch, der nach Gottes Bild geschaffen ist und an Gott, der Liebe ist, Anteil hat, seinerseits zur Liebe fähig ist. Das ist sein Wesen und seine tiefste Definition, die sagt, was er ist und sein wird, «denn eins ist, was seine Liebe ist»6; und er ist zur Liebe fähig, weil er aus Liebe erschaffen wurde und daher diese Liebe schon empfangen hat: «Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt […] hat»7. «Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat»8. Darum ist die gesamte Dynamik des sittlichen Lebens und der Tugenden von der Liebe durchformt. «Die Liebe ordnet die Akte aller anderen Tugenden auf das letzte Ziel hin und gibt daher allen anderen Tugenden ihre Form. Deshalb sagt man, dass die Liebe die Form der Tugenden ist»9.

3. Dimensionen des Menschseins: Verstand, Wille, Affekte

Den Menschen als liebendes oder als zur Liebe fähiges Wesen zu beschreiben, kann je nach dem, was man unter Liebe versteht, mehrdeutig sein. Der heutige Gebrauch dieses Wortes ist zu unterschiedlich und zu weitläufig. Ganz allgemein kann man sagen, dass Liebe ein Wunsch ist oder zumindest einen solchen beinhaltet. Der Mensch aber kann auf verschiedene Weise wünschen (egoistisch oder altruistisch), auf unterschiedlichen Ebenen seiner Natur (sinnlich oder geistig), auf unterschiedlichste Objekte bezogen (z.B. dem Menschen unter- oder übergeordnete, in sich gute oder schlechte Dinge usw.), die diese Wünsche unterschiedlich charakterisieren und damit auch die wünschende Person selbst. Im Licht des Glaubens erkennen wir, welche Art zu lieben dem Menschen als Bild Gottes am besten entspricht: so zu lieben, wie er liebt.

Wie Gott zu lieben oder geistig zu lieben, bedeutet kurz gesagt: frei zu lieben und der Wahrheit gemäß zu lieben. Das heißt mit anderen Worten, die Affekte auf jene Ebene zu erheben, auf der der Verstand in ihnen wahr oder falsch, angemessen oder unangemessen unterscheidet und die Liebe zum anderen öffnet oder sie ihm zuwendet. Das kann natürlich nur in Freiheit und willentlich geschehen. Es geht also darum, die drei grundlegenden geistigen Dimensionen des geistigen Menschseins ins Spiel zu bringen: den Verstand bzw. den Logos, der klar die verschiedenen Formen der Liebe unterscheidet und sie auf andere Personen hin öffnet; der Wille, der frei entscheidet, wie er dieser klaren und zugleich anspruchsvollen Forderung entspricht; und die Affekte, die in ihrer letzten Tiefe die eigentliche Liebe bilden.

Natürlich gibt es in uns aber auch einen nicht-geistigen Bereich, in dem es an Klarheit, Freiheit oder echter Liebe fehlt. Worum es dann geht, ist die Integration dieser drei menschlichen Dimensionen auf ihrer höheren bzw. geistigen Ebene, ohne die Liebe herabzuwürdigen, als wäre der Mensch ein materielles, animalisches oder vom Herdentrieb gesteuertes Wesen.

Auf dieser geistigen Ebene gehen Verstand und Liebe harmonisch Hand in Hand. “Intelligenz und Liebe stehen nicht einfach nebeneinander: Es gibt die an Intelligenz reiche Liebe und die von Liebe erfüllte Intelligenz10.Eros und Agape, die oft in radikaler Weise gegeneinander ausgespielt wurden (als begehrende Liebe und wohlwollende Liebe, als aufsteigende und absteigende Liebe, besitzergreifende und aufopfernde Liebe, Selbstliebe und Liebe zu anderen usw.), wirken zusammen, indem sie einander erhöhen und reinigen. «In Wirklichkeit lassen sich Eros und Agape – aufsteigende und absteigende Liebe – niemals ganz voneinander trennen. Je mehr beide in unterschiedlichen Dimensionen in der einen Wirklichkeit Liebe in die rechte Einheit miteinander treten, desto mehr verwirklicht sich das wahre Wesen von Liebe überhaupt. Wenn Eros zunächst vor allem verlangend, aufsteigend ist – Faszination durch die große Verheißung des Glücks –, so wird er im Zugehen auf den anderen immer weniger nach sich selber fragen, immer mehr das Glück des anderen wollen, immer mehr sich um ihn sorgen, sich schenken, für ihn da sein wollen. Das Moment der Agape tritt in ihn ein, andernfalls verfällt er und verliert sein eigenes Wesen. Umgekehrt ist es aber auch dem Menschen unmöglich, einzig in der schenkenden, absteigenden Liebe zu leben. Er kann nicht immer nur geben, er muss auch empfangen. Wer Liebe schenken will, muss selbst mit ihr beschenkt werden»11.

4. Die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen

Indem uns Gott sein Wesen als Liebe offenbart hat, hat er uns auch gezeigt, wie er liebt. Und zwar nicht nur, wie er die Menschen liebt, sondern auch wie er in sich selbst liebt. Gott liebt interpersonal. Gott ist eine Dreiheit von Personen, die einander kennen und lieben. Wenn wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind, sind wir daher berufen, auf diese Weise zu lieben, und wir besitzen eine Spur oder Teilhabe an dieser interpersonalen Liebe.

Diese Dimension der Liebe, der Liebe zum anderen, tritt schon in der natürlichen Erfahrung der Liebe zutage sowie in der Erfahrung des anderen als Person. Wenn die Liebe einerseits Wunsch ist, dann bewegt sie, ist sie Bewegung; und das Natürliche ist, dass sie den Menschen aus sich heraus und zu Höherem emporhebt, zu anderen Personen. Andererseits ist die echte Erfahrung, die wir von den anderen haben, nicht bloße eine Erfahrung von “Objekten”, zu denen wir Stellung beziehen, wenn wir wollen. Es ist vielmehr eine Erfahrung anderer “Subjekte”, die von Anfang an von uns eine Antwort erwarten bzw. die eine Stellungnahme fordern. Diese natürliche Entdeckung wird durch die Glaubenswahrheit, die wir hier betrachten, verstärkt: der Menschen als Bild Gottes. Wenn der andere Bild Gottes ist, dann bedeutet, ihn zu lieben, das Bild Gottes zu lieben, also jemanden zu lieben, den Gott liebt, also Gott selbst zu lieben.

Liebe ist somit wesentlich interpersonal: «Da die Liebe voll Wahrheit ist, kann sie vom Menschen in ihrem Reichtum an Werten begriffen, zustimmend angenommen und vermittelt werden. Denn die Wahrheit ist “lógos”, der “diá-logos” schafft und damit Austausch und Gemeinschaft bewirkt. (...) Die Wahrheit öffnet den Verstand der Menschen und vereint ihre Intelligenz im Logos der Liebe. Das ist die Botschaft und das christliche Zeugnis der Liebe»12. Darum stellt das Neue Testament die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten gemeinsam vor13, so dass das eine zum andere führt: Die Liebe zu Gott führt zur Nächstenliebe und die Nächstenliebe führt zur Liebe zu Gott. «Wenn du deinen Bruder liebst, ist es unerlässlich, dass du die Liebe selbst liebst. Da nun die Liebe Gott ist – denn ‘Gott ist Liebe’ –, muss derjenige, der seinen Bruder liebt, auch Gott lieben»14.

Auf diesen tiefen anthropologischen und ethischen Grundlagen beruht die Gesellschaftsbezogenheit des Menschen; nicht bloß auf dem faktischen Nutzen des Zusammenlebens. Deshalb ist das Gemeinschaftsleben auch von Liebe durchdrungen und besteht in erster Linie aus Beziehungen und Gemeinschaften, die auf Liebe beruhen: Familie und Freundschaft. Nur durch die Sozialisierung, den Kontakt mit anderen, wächst und entwickelt sie sich der Mensch, wie es seinem Wesen entspricht: «Der Mensch […] (kann) sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden (Gaudium et spes, Nr. 24). Deshalb kann niemand ohne die Liebe zu konkreten Mitmenschen den Wert des Lebens erfahren»15.

So lesen wir im Evangelium: «Wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter»16. Daraus ergeben sich reiche Konsequenzen für die Familie als Grundzelle der Gesellschaft. «Gott ist die Liebe (1 Joh 4,8) und lebt in sich selbst ein Geheimnis personaler Liebesgemeinschaft. Indem er den Menschen nach seinem Bild erschafft und ständig im Dasein erhält, prägt Gott der Menschennatur des Mannes und der Frau die Berufung und daher auch die Fähigkeit und die Verantwortung zu Liebe und Gemeinschaft ein (vgl. Gaudium et spes 12). Die Liebe ist demnach die grundlegende und naturgemäße Berufung jedes Menschen»17.

Gleiches gilt von der Freundschaft: «Ich habe euch Freunde genannt»18. Sie nährt sich von der Liebe Gottes und bildet Gemeinschaft. «Durch die Gnade, die er uns schenkt, werden wir so erhöht, dass wir wirklich seine Freunde sind. Mit der gleichen Liebe, die er in uns ausgießt, können wir ihn lieben und in seiner Liebe auch die anderen miteinschließen, in der Hoffnung, dass auch sie ihren Platz in der Gemeinschaft der Freundschaft finden mögen, die auf Jesus Christus gegründet ist»19.

Bibliografie

Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 355-368.


1 Gen 1,27.

2 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 362.

3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 200.

4 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 356.

5 1 Joh 4,8 und 16.

6 Hl. Augustinus, Kommentar zum ersten Johannesbrief, 2, 14

7 1 Joh 4,10.

8 1 Joh 4,19.

9 Hl. Thomas von Aquin, Suma Theologiae, II-II, q. 23, a. 8.

10 Benedikt XVI., Caritas in veritate, Nr. 30.

11 Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 7.

12 Benedikt XVI., Caritas in veritate, Nr. 4.

13 Vgl. Mt 22,40; 1 Joh 4,20 und 21; etc.

14 Hl. Augustinus, Kommentar zum ersten Johannesbrief, 9, 10.

15 Papst Franziskus, Fratelli tutti, Nr. 87.

16 Mt 12,50.

17 Hl. Johannes Paul II., Familiaris consortio, Nr. 11.

18 Joh 15,15.

19 Papst Franziskus, Christus vivit, Nr. 153.