Thema 28. Das erste und zweite Gebot

Das erste Gebot des Dekalogs hat eine existenzielle Bedeutung: Es ist das einzige mögliche Fundament, um ein menschliches Leben gelingen zu lassen. Der höchste Grund der menschlichen Würde besteht in der Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott. Die Liebe zu Gott muss die Liebe zu jenen umfassen, die Gott liebt. Das zweite Gebot verbietet jeden unangebrachten Gebrauch des Namens Gottes, besonders die Blasphemie (Gotteslästerung).

Das erste Gebot

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzer Kraft“ (Dtn 6,5). Diese Worte des Deuteronomiums rufen den Menschen auf, an Gott zu glauben, auf ihn zu hoffen und ihn über alles zu lieben (vgl. Katechismus, 2134).

Auch wenn es oft synthetisch formuliert wird mit „Du sollst Gott mehr als alle Dinge lieben“, „umfasst das erste Gebot in Wirklichkeit den Glauben, die Hoffnung und die Liebe“ (vgl. Katechismus, 2086), weil uns die Liebe befähigt, auf göttliche Weise zu lieben. Aber es ist nicht möglich, zur Liebe, die Gott verdient, bewegt zu werden, ohne ihn mit dem Licht des Glaubens wirklich zu kennen und ohne ihn als das vollkommene Gut anzuerkennen, nach dem wir streben und das, gestützt auf die Hoffnung, wir zu erreichen vertrauen.

Jesus selbst bestätigt: „Das erste Gebot ist: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“ (Mk 12,28-30). Für das Leben jedes Menschen ist es wesentlich, dass dieses Gebot den ihm gebührenden Platz einnimmt: Es ist das erste, nicht nur nach der Ordnung des Dekalogs, sondern in Bezug auf die existenzielle Wichtigkeit, denn es ist das einzig mögliche Fundament, um ein menschliches Leben so zu gestalten, dass es gelingt.

Der Sinn des ersten Gebots

Unsere Freiheit gestattet, dass wir uns die verschiedensten Ziele setzen und nach ihnen streben, indem wir Entscheidungen treffen. Viele dieser Ziele werden als Mittel gesucht, um andere Ziele zu erreichen. Aber immer gibt es ein Ziel, das wir letztes Ziel nennen können, weil es nicht eines anderen Zieles wegen gewollt wird, sondern um seiner selbst willen. Die Person sieht es als ihr höchstes Gut an, dem sie die Auswahl und Verfolgung aller Zwischenziele unterordnet. Sie wählt und handelt im Leben in dem Maß, als sie denkt, dass etwas sie ihrem Ziel näherbringt oder nicht, es mehr oder weniger begünstigt; und sie urteilt nach demselben Kriterium, ob die Anstrengungen und Bemühungen, die das eine oder andere Zwischenziel verlangen werden, der Mühe wert sind. Das letzte Ziel, das sich jemand vornimmt, bestimmt die Ordnung der Liebe in ihrem Leben.

Wenn aber jemand sich ein falsches letztes Ziel vornimmt, das nicht imstande ist, sein Leben zu erfüllen, auch wenn es das zu versprechen scheint – Ehre, Reichtum, Macht… –, oder wenn er so handelt, als hätte er es sich vorgenommen, sind alle seine Entscheidungen in Bezug auf die Zwischenziele durch diese Unordnung der Liebe bedingt; und die Freiheit, die sich dieser Lüge bei ihrem Gebrauch unterwirft, wird schließlich die Person schädigen, ja sie sogar zerstören (vgl. z. B. Katechismus, 29).

Denn wir sind nach dem Maß Gottes gemacht worden. „Ein besonderer Wesenszug der Würde des Menschen liegt in seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Gott. Zum Dialog mit Gott ist der Mensch schon von seinem Ursprung her aufgerufen: er existiert nämlich nur, weil er, von Gott aus Liebe geschaffen, immer aus Liebe erhalten wird; und er lebt nicht voll gemäß der Wahrheit, wenn er diese Liebe nicht frei anerkennt und sich seinem Schöpfer anheim gibt“ (Gaudium et spes, 19).

Unser ganzes Gut liegt in Gott, und außerhalb von ihm gibt es kein wahres und totales Gut. Er ist objektiv unser letztes Ziel. Auch wenn wir das nicht wissen oder in manchen Momenten unseres Lebens nicht klar verstehen, so kann nur Gott unsere Sehnsucht nach Glück stillen. Und alle Liebe, die uns nicht zu Gott führt, die uns von ihm trennt, ist zugleich ein Verrat an uns selbst, eine Verurteilung zu künftiger Frustration.

Unser Herz ist dazu geschaffen, Gott zu lieben und uns von seiner Liebe erfüllen zu lassen. Dafür gibt es keinen Ersatz und keine reale Alternative. Daher ist das einzige angemessene Maß, um dieser unendlichen Liebe, die uns Gott anbietet, zu entsprechen, ihm „alles“ zu geben: ihn zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Kräften. Wenn wir ihm keine Liebe nach dem Maß seiner Sehnsucht geben, „dann rächt sich das Herz und wird zum Fäulnisherd“ (Im Feuer der Schmiede, Nr. 204).

Die Liebe zu Gott

Die Liebe zu Gott, auf die sich das erste Gebot bezieht, verlangt:

A) Ihn als letztes Ziel all unseres Handelns zu erwählen. Zu versuchen, alles aus Liebe zu ihm und zu seiner Ehre zu tun: „Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anderes tut, tut alles zur Verherrlichung Gottes“ (1 Kor 10,31). „’Deo omnis gloria’ – Gott alle Ehre.“1 Kein Ziel darf diesem vorgezogen werden, denn keine Liebe verdient es, über die Liebe zu Gott gestellt zu werden: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37). Eine Liebe, die die Liebe zu Gott ausschließt oder unterordnet, wäre weder wahr noch gut.

B) Seinen Willen mit Werken zu erfüllen: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt 7,21). Ihn erfüllen, auch wenn es Opfer verlangt: „Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen“ (Lk 22,42), in der Überzeugung, dass es der Mühe wert ist, denn es geht um unser höchstes Gut.

Der Wille Gottes ist, dass wir heilig werden (vgl. 1 Thess 4,3), dass wir Christus nachfolgen (vgl. Mt 17,5), indem wir alles Notwendige tun, um den Weg seiner Gebote zu folgen (vgl. Joh 14,21). „Du willst wirklich heilig werden? – Erfülle die kleine Pflicht jeden Augenblicks! Tu das, was du sollst, und sei ganz in dem, was du tust.“2

C) Sich stets in seiner Schuld zu wissen – in der Schuld eines Kindes seinem guten Vater gegenüber – und zu wünschen, seiner Liebe zu entsprechen. Er hat uns zuerst geliebt, er hat uns frei geschaffen und uns zu seinen Kindern gemacht (vgl. 1 Joh 4,19). Die Sünde ist eine Zurückweisung der Liebe Gottes (vgl. Katechismus, 2094); aber er vergibt immer, er gibt sich uns immer hin: Die Logik Gottes ist der Überfluss. „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat“ (1 Joh 4,10; vgl. Joh 3,16). „Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben“ (Gal 2,20). „Nur mit voller Hingabe des Leibes und der Seele können wir eine solche Liebe erwidern.“3 Es handelt sich nicht um ein Gefühl, sondern um einen Entschluss des Willens, der von Empfindungen begleitet sein kann oder nicht.

Der Wunsch, Gottes Liebe mit Liebe zu erwidern, führt zum Bemühen, auf verschiedene Weise4 die Beziehung zu Gott zu pflegen, den persönlichen Umgang mit ihm, der seinerseits die Liebe bildet und nährt. Deshalb schließt das erste Gebot verschiedene Ausdrucksformen der Tugend der Religion ein:

- „Anbetung ist die erste Haltung des Menschen, der sich vor seinem Schöpfer als Geschöpf erkennt“ (Katechismus, 2628). Sie ist die grundlegendste Haltung der Religion (vgl. Katechismus, 2095). „Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen“ (Mt 4,10). „Dein Gebet soll immer Anbetung Gottes sein – aufrichtig und von Herzen.“5 Die Anbetung Gottes befreit von den verschiedenen, auch modernen Formen des Götzendienstes, die in die Sklaverei führen.

- Die Danksagung (vgl. Katechismus, 2638), weil wir alles, was wir sind und haben, von ihm empfangen: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1 Kor 4,7).

- Die Bitte um Vergebung für die Entscheidungen und Haltungen, die uns von Gott trennen (die Sünde); und um Hilfe, auch für die anderen, die Kirche und die ganze Menschheit. Jesus schließt diese Arten von Bitten in das Vaterunser ein. Das Bittgebet des Christen ist voller Sicherheit, denn es ist ein kindliches Bitten durch Christus: „Was ihr vom Vater erbitten werdet, das wird er euch in meinem Namen geben“ (Joh 16,23; vgl. 1 Joh 5,14-15).

- Die Liebe zeigt sich auch im Opfer, das die Darbringung eines Gutes an Gott ist, als Ausdruck der inneren Hingabe des eigenen Willens, das heißt des Gehorsams. Christus hat uns erlöst durch sein Opfer am Kreuz, das seinen vollkommenen Gehorsam bis zum Tod dem Vater gegenüber offenbart (vgl. Phil 2,8).

- Das Gebet und das Opfer sind untrennbar: „Das Gebet wird wertvoller durch das Opfer.“6 Beide sind in ihren verschiedenen Formen Teil der Gottesverehrung, die cultus latriae oder Anbetung genannt wird. Der Kultakt schlechthin ist die heilige Messe, in der Christus selbst durch den Heiligen Geist dem Vater die vollkommene Anbetung, Danksagung, Sühne für die Sünden und Bitte um seine Gnade darbringt. Durch die Taufe Glieder Christi geworden, haben die Christen die Fähigkeit empfangen, sich besonders in der Feier der Eucharistie Gott in Christus darzubringen, der unsere Opfergaben annimmt und sie, mit seinem Opfer vereint, dem Vater im Heiligen Geist darbietet (vgl. Katechismus, 2100).

- Die Liebe zu Gott soll sich in der Würde des Kults zeigen: im Einhalten der Vorschriften der Kirche, in der „Etikette der Frömmigkeit“7, der Pflege und Sauberkeit der Gegenstände, die für den Gottesdienst bestimmt sind. „Jene Frau, die im Hause Simons des Aussätzigen in Bethanien das Haupt des Meisters mit Nardenöl salbte, erinnert uns an die Pflicht, im Dienste des Herrn freigebig zu sein. – All die Pracht und Herrlichkeit und Schönheit scheinen mir gering“8.

Der Glaube und die Hoffnung auf Gott

Glaube, Hoffnung und Liebe sind die drei göttlichen Tugenden (Tugenden, die sich auf Gott richten). Die größte ist die Liebe (vgl. 1 Kor 13,13), die dem Glauben und der Hoffnung übernatürliche „Form“ und „Leben“ gibt (ähnlich wie die Seele dem Leib Leben verleiht). Aber die Liebe setzt den Glauben voraus, denn ein Mensch kann Gott nur lieben – als Frucht seiner Freiheit –, wenn er ihn kennt; und sie setzt die Hoffnung voraus, denn nur der kann Gott lieben, der sein Verlangen nach Glück auf die Vereinigung mit ihm richtet; sonst wird er, zu seinem Schaden, das lieben, wonach ihn verlangt.

Der Glaube ist ein Geschenk Gottes, Licht für die Vernunft, das uns erlaubt, die Wahrheit, die Gott offenbart hat, zu erkennen und ihr zuzustimmen, sie uns zu eigen zu machen. Er richtet sich auf das, was Gott offenbart, aber auch auf Gott selbst, der es offenbart, indem er ihm vertraut.

Zwischen Glauben und Vernunft gibt es keinen Gegensatz und kann es keinen geben. Die Vernunft, geleitet vom Licht des Glaubens, ist unentbehrlich zur Annahme des Glaubens und zum tieferen Eindringen in ihn, indem man sich gleichsam den Blick Gottes auf die Wirklichkeit zu Eigen macht.

Die doktrinelle Bildung ist wichtig, um einen festen Glauben zu erlangen und so die Liebe zu Gott und zu den anderen um Gottes willen zu nähren. Sie ist unerlässlich für Heiligkeit und Apostolat. Das Glaubensleben ist ein auf den Glauben gestütztes Leben und steht im Einklang mit ihm.

Auch die Hoffnung ist eine Gabe Gottes, die dazu führt, die Vereinigung mit ihm, in der unser Glück besteht, zu wünschen – ohne den Mut zu verlieren, wenn sie uns unerreichbar scheint –, denn wir vertrauen darauf, dass er uns, auch wenn wir nicht wissen wie, die Fähigkeit und die Mittel geben wird, sie zu erlangen (vgl. Katechismus, 2090).

Wir Christen müssen „froh in der Hoffnung“ (Röm 12,12) sein, weil uns, wenn wir treu sind, das Glück des Himmels erwartet: die Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht (1 Kor 13,12), die visio beatifica. „Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden“ (Röm 8,17).

Das christliche Leben ist ein Weg des Glücks, nicht nur des zukünftigen, sondern auch des irdischen Glücks, weil wir schon jetzt kraft der Gewissheit, die uns die wahre Hoffnung gibt, im Voraus etwas von diesem ewigen Glück genießen. Wir wissen, dass dieses Glück auf Erden vereinbar ist mit dem Schmerz, mit dem Kreuz. Die Hoffnung lässt uns in der Gewissheit leben, dass es die Mühe wert ist, aus Liebe zu arbeiten und zu leiden9, damit sich mit unserer Mitwirkung die wunderbaren Pläne Gottes für unser Leben erfüllen.

„Die Hoffnung betrügt nicht. Sie ist nicht auf das gegründet, was wir tun oder sein können; und auch nicht auf das, was wir glauben können. Ihr Fundament, das Fundament der christlichen Hoffnung, ist das Treueste und Sicherste, das existieren kann: Die Liebe, die Gott zu jedem Einzelnen von uns hat“ (Franziskus, Generalaudienz, 15.2.2017).

Die Liebe zu den anderen und zu sich selbst aus Liebe zu Gott

Bei seiner Antwort auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot fügt Jesus hinzu: „Ebenso wichtig ist das zweite; Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39). Er bezieht sich nicht auf das im Dekalog als zweitesangeführte Gebot, sondern auf seinen zweiten wesentlichen Kern, der nach der Liebe zu Gott verschiedene Gebote des Dekalogs einschließt. Jesus nennt es „ebenso wichtig“ wie das erste. Es ist verschieden, es ist nicht gleichwertig oder auswechselbar, aber doch untrennbar mit dem ersten verbunden. Daher ist es „ebenso wichtig“ wie das erste.

Die Liebe zu Gott muss die Liebe zu jenen, die Gott liebt, umfassen. „Wenn jemand sagt, Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben“ (1 Joh 4,20-21). Man kann Gott nicht lieben, ohne alle Menschen zu lieben, die von ihm nach seinem Bild geschaffen und berufen wurden, durch die Gnade seine Kinder zu sein (vgl. Katechismus, 2069).

„Den Kindern Gottes gegenüber müssen wir uns als Kinder Gottes verhalten.“10

A) Sich wie ein Sohn bzw. eine Tochter Gottes verhalten, wie ein anderer Christus. Die Liebe zu den Mitmenschen hat die Liebe Christi zum Maßstab: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid“ (Joh 13,34-35). Der Heilige Geist wurde in unsere Herzen gesandt, damit wir wie Kinder Gottes lieben können, mit der Liebe Christi (vgl. Röm 5,5).

B) In den anderen Kinder Gottes sehen bzw. Christus sehen: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Für sie ihr wahres Gut wünschen, das Gott für sie will: dass sie heilig sind und deshalb glücklich werden. Der erste Ausdruck der Liebe ist das Apostolat. Das führt auch dazu, sich um die materiellen Bedürfnisse der anderen zu kümmern. Verstehen – sich die geistlichen und materiellen Schwierigkeiten der anderen zu Eigen machen. Vergeben können. Barmherzig sein (vgl. Mt 5,7). „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, (…) sie sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach …“ (1 Kor 13,4-5). Die brüderliche Zurechtweisung (vgl. Mt 18,15).

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39). Hier kommt auch zum Ausdruck, dass es eine rechte Selbstliebe gibt, die dazu führt, sich zu sehen und zu beurteilen, wie Gott es tut, und für sich selbst das Gut zu suchen, das Gott will: die Heiligkeit und daher das Glück in Gott.

Es gibt auch eine ungeordnete Selbst- oder Eigenliebe: den Egoismus, der dazu treibt, den eigenen Willen über den Willen Gottes zu stellen und das persönliche Interesse über den Dienst an den anderen. Die rechte Liebe zu sich selbst ist nicht ohne Kampf gegen den Egoismus erreichbar. Sie verlangt Selbstverleugnung, Hingabe an Gott und die anderen. „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 16,24-25). Der Mensch „kann sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden“11.

Sünden gegen das erste Gebot

Die Sünden gegen das erste Gebot sind Sünden gegen die göttlichen Tugenden:

A) Gegen den Glauben: Atheismus, Agnostizismus, freiwilliger Glaubenszweifel, religiöse Gleichgültigkeit, Häresie, Apostasie (Glaubensabfall), Schisma usw. (vgl. Katechismus, 2089). Es widerspricht auch dem ersten Gebot, den eigenen Glauben willentlich in Gefahr zu bringen. Gegen die rechte Gottesverehrung verstoßen Sakrileg, Simonie, gewisse abergläubische Praktiken, Magie usw. und Satanismus (vgl. Katechismus, 2111-2128).

B) Gegen die Hoffnung: Verzweiflung am eigenen Heil (vgl. Katechismus, 2091) und im extremen Gegensatz dazu Vermessenheit: Erwarten, dass die göttliche Barmherzigkeit die Sünden ohne Bekehrung und Reue bzw. ohne Bußsakrament vergeben wird (vgl. Katechismus, 2092). Dieser Tugend widerspricht es auch, das letzte Glück anderswo als in Gott zu erwarten.

C) Gegen die Liebe: jede Sünde verstößt gegen die Liebe; direkt aber ist ihr die Zurückweisung Gottes entgegengesetzt und ebenso die Lauheit, die darin besteht, Gott nicht allen Ernstes mit ganzem Herzen lieben zu wollen.

Das zweite Gebot

Das zweite Gebot des Dekalogs lautet: Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren. Dieses Gebot gebietet, den Namen Gottes zu ehren und zu achten (vgl. Katechismus, 2142). Wir sollen „ihn nur gebrauchen, um Gott zu preisen, zu loben und zu verherrlichen“ (Katechismus, 2143). Sonst verliert der Mensch in größerem oder geringerem Maß den Sinn für die Realität: Er vergisst, wer Gott ist und wer er selbst ist; und gibt erneut der ersten Versuchung nach.

„Der Name drückt das Wesen, die Identität der Person und den Sinn ihres Lebens aus. Gott hat einen Namen. Er ist nicht eine namenlose Kraft“ (Katechismus, 203). Gott kann jedoch weder mit menschlichen Begriffen erfasst werden, keine Idee kann ihn darstellen, noch kann das göttliche Wesen erschöpfend ausgedrückt werden. Gott ist „heilig“, das bedeutet, er ist absolut überlegen, steht über jeder Kreatur, ist transzendent.

Damit wir ihn anrufen und uns persönlich an ihn wenden können, hat er sich trotz allem im Alten Testament „seinem Volk Schritt für Schritt und unter verschiedenen Namen zu erkennen gegeben“ (Katechismus, 204). Der Name, den er Mose offenbarte, weist darauf hin, dass Gott das wesenhafte Sein ist, der das Sein von niemandem empfangen hat und von dem alles ausgeht. „Gott sagte zu Mose: Ich bin der ’Ich-bin’. Und er fügte hinzu: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der ’Ich-bin’ (Jahwe: ’Er ist’) hat mich zu euch gesandt (…). Das ist mein Name für immer“ (Ex 3,13-15; vgl. Katechismus, 213). Aus Ehrfurcht vor der Heiligkeit Gottes sprach das Volk Israel diesen Namen nicht aus, sondern ersetzte ihn durch den Titel „Herr“ („Adonai“ auf Hebräisch, „Kyrios“ auf Griechisch) (vgl. Katechismus, 209). Andere Namen Gottes im Alten Testament sind: „Elohim“, das ist der Majestätsplural von „Fülle“ oder „Größe“; „El-Saddai“, was Mächtiger, Allmächtiger bedeutet.

Im Neuen Testament tut Gott das Geheimnis seines inneren Lebens kund: des einen Gottes in drei Personen: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Jesus Christus lehrt uns, Gott „Vater“ zu nennen (Mt 6,9). „Abba“ ist auf Hebräisch die familiäre Weise, Vater zu sagen (vgl. Röm 8,15). Gott ist der Vater Jesu Christi und unser Vater, wenn auch nicht auf dieselbe Weise, denn Jesus ist der eingeborene Sohn, und wir sind Kinder durch Adoption. Aber diese besondere Adoption macht uns wahrhaft zu Kindern (vgl. 1 Joh 3,1), zu Brüdern Jesu Christi (Röm 8,29), weil der Heilige Geist in unsere Herzen gesandt wurde und wir an der göttlichen Natur teilhaben (vgl. Gal 4,6; 2 Petr 1,4). Wir sind Kinder Gottes in Christus. Folglich können wir uns an Gott wenden, indem wir ihn wahrhaft „Vater“ nennen, wie der heilige Josefmaria empfiehlt: „Gott ist ein Vater voll von Zartgefühl und unendlicher Liebe. Nenne Ihn Vater oftmals während des Tages. Sage Ihm - du allein, in deinem Herzen -, dass du Ihn liebst, Ihn anbetest, dass du dich stolz und stark fühlst, weil du sein Sohn bist“12.

Im Vaterunser beten wir: „Geheiligt werde dein Name“. Das Wort „heiligen“ soll hier in dem Sinn verstanden werden, „den Namen Gottes als heilig anerkennen und seinen Namen so behandeln“ (Katechismus, 2807). Das tun wir, wenn wir Gott anbeten, loben oder ihm Dank sagen. Aber die Worte „Geheiligt werde dein Name“ sind auch eine Vaterunser-Bitte: Wenn wir sie aussprechen, bitten wir, dass sein Name durch uns geheiligt werde, das heißt, dass wir ihn mit unserem Leben ehren und die anderen dazu anleiten, dass sie ihm Ehre erweisen (vgl. Mt 5,16). „Es hängt zugleich von unserem Leben und von unserem Gebet ab, ob sein Name unter den Völkern geheiligt wird“ (Katechismus, 2814).

Die Achtung vor dem Namen Gottes verlangt auch Achtung vor dem Namen der Jungfrau Maria, der Heiligen und der heiligen Wirklichkeiten, in denen Gott auf die eine oder andere Weise gegenwärtig ist, vor allem der Heiligsten Eucharistie, die die wahre Gegenwart Jesu Christi, der zweiten Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, unter den Menschen ist.

Das zweite Gebot verbietet jeden unangebrachten Gebrauch des Namens Gottes (vgl. Katechismus, 2146), besonderen die Blasphemie: „Gotteslästerung besteht darin, dass man - innerlich oder äußerlich - gegen Gott Worte des Hasses, des Vorwurfs, der Herausforderung äußert (…). Gotteslästerlich ist es auch, den Namen Gottes zu missbrauchen, um verbrecherische Handlungen zu decken, Völker zu versklaven, Menschen zu foltern oder zu töten. (…) Gotteslästerung ist in sich eine schwere Sünde“ (Katechismus, 2148).

Es verbietet auch, falsch zu schwören (vgl. Katechismus, 2150). Schwören bedeutet, Gott zum Zeugen anrufen (zum Beispiel, um die Wahrheit eines Versprechens oder einer Zeugenaussage zu garantieren). Der Schwur (Eid) ist erlaubt, wenn er notwendig ist und der Wahrheit und der Gerechtigkeit entspricht: zum Beispiel bei einem Urteil oder bei der Übernahme eines Amtes (vgl. Katechismus, 2154). Sonst lehrt der Herr, nicht zu schwören: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein“ (Mt 5,37; vgl. Jak 5,12; Katechismus, 2153).

Der Name des Christen

„Der Mensch ist auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur“13. Er ist nicht „etwas“, sondern „jemand“, eine Person. „Er allein ist berufen, in Erkenntnis und Liebe am Leben Gottes teilzuhaben. Auf dieses Ziel hin ist er geschaffen worden, und das ist der Hauptgrund für seine Würde“ (Katechismus, 356). In der Taufe erhält er einen Namen, der seine unwiederholbare Einzigartigkeit vor Gott und vor den anderen ausdrückt (vgl.Katechismus, 2156, 2158). Taufen heißt „christianisieren“. Christ, Jünger Christi, ist der Eigenname jedes Getauften: „In Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen“ (Apg 11.26).

Gott nennt jeden Einzelnen bei seinem Namen (vgl. 1 Sam 3,4-10; Jes 43,1; Joh 10,3; Apg 9,4). Er liebt jeden Einzelnen persönlich. Von jedem Einzelnen erwartet er eine Antwort der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzer Kraft“. Niemand kann diese Antwort für uns geben. Der heilige Josefmaria ermuntert uns: „Bedenkt noch einmal in Ruhe jene göttliche Mahnung, die die Seele mit Unruhe erfüllt und sie zugleich die Süße des Wabenhonigs schmecken lässt: Redemi te et vocavi te nomine tuo: meus es tu (Jes 43,1), ich habe dich erlöst und dich beim Namen gerufen, du bist mein! Nehmen wir Gott nicht das, was sein Eigentum ist. Er ist ein Gott, der uns so sehr geliebt hat, dass Er für uns gestorben ist; ein Gott, der uns von aller Ewigkeit her, noch vor Erschaffung der Welt, auserwählt hat, damit wir in seiner Gegenwart heilig seien (vgl. Eph 1,4)“14.

Javier López / Jorge Miras

Grundlegende Bibliografie

Katechismus der Katholischen Kirche, 203-213; 2064-2132; 2142-2195.

Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, 176-180.

Empfohlene Lektüren

Benedikt XVI., Deus caritas est, 25.12.2005, 1-18.

Ders., Spe salvi, 30.11.2007.

Franziskus, Lumen fidei, 29.6.2013.

Hl. Josefmaria, Homilien Leben aus dem Glauben, Die Hoffnung des Christen, Mit der Kraft der Liebe, Umgang mit Gott, in Freunde Gottes, 190-237; 142-153.


1 Hl. Josefmaria, Der Weg, 780.

2 Ebd., 815. Vgl. ebd., 933.

3 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, 87.

4 Vgl. ders., Der Weg, 91.

5 Ders., Im Feuer der Schmiede, 263.

6 Ders., Der Weg, 81.

7 Ebd., 541.

8 Ebd., 527. Vgl. Mt 26,6-13.

9 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, 26.

10 Ders., Christus begegnen, 36.

11 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 24.

12 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, 150.

13 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 24.

14 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, 312.

Javier López / Jorge Miras