Thema 1. Die Sehnsucht nach Gott

Auf dem Grund des menschlichen Geistes finden wir ein Verlangen nach Glück, die Hoffnung auf eine definitive Heimat. Wir sind irdische Wesen, aber wir sehnen uns nach dem Ewigen, nach Gott. Diesen Gott können wir – ausgehend von der Welt und von der menschlichen Person selbst – mit Sicherheit als Ursprung und Ziel des Universums und als unser höchstes Gut erkennen.

1. Die Sehnsucht nach Gott: Der Mensch ist „gottfähig“. Das Verlangen nach dem vollkommenen Glück ist Verlangen nach Gott

„Der Mensch ist geschaffen zum Glücklichsein wie der Vogel zum Fliegen“, schreibt ein russischer Dichter des 19. Jahrhunderts. Alle suchen das Glück, das eigene Wohl, und gestalten ihr Leben so, wie sie meinen, es am besten erreichen zu können. Menschliche Güter, die uns vervollkommnen und bereichern, machen uns glücklich. Aber in diesem Leben ist das Glück immer durch einen Schatten getrübt. Nicht nur, weil wir manchmal, nachdem wir Gutes erhalten haben, uns daran gewöhnen (was häufig vorkommt, wenn sich unsere Wünsche erfüllt haben), sondern radikaler, weil kein geschaffenes Gut die Sehnsucht nach dem Glück des Menschen zu stillen vermag und weil außerdem die geschaffenen Güter vergänglich sind.

Wir sind Menschen, in Einheit von Leib und Geist, persönliche Wesen. Unsere geistige Natur befähigt uns, über die konkreten Wirklichkeiten, mit denen wir in Beziehung stehen, hinauszugehen: Personen, Institutionen, materielle Güter… Dass wir die verschiedensten Aspekte der Wirklichkeit erfassen, schöpft unsere Erkenntnisfähigkeit nicht aus. Unsere Fragen kommen an kein Ende, immer können wir neue Dinge erkennen oder sie tiefer verstehen. Und Ähnliches gilt für unsere Fähigkeit zu lieben: Es gibt nichts Geschaffenes, das uns vollkommen sättigt; immer können wir mehr lieben, bessere Dinge lieben. Und irgendwie fühlen wir uns zu all dem angetrieben. Neue Ziele zu erreichen, macht uns glücklich; es macht uns Freude, die Probleme unserer Umwelt besser zu verstehen; neue Situationen zu entdecken und Erfahrungen zu sammeln. Wir streben nach all dem und sind bedrückt, wenn wir es nicht erreichen. Wir empfinden Sehnsucht nach der Fülle. Darin liegt ein Hinweis auf unsere Größe, auf die Tatsache, dass es in uns etwas Unendliches gibt, das jede konkrete Wirklichkeit, die Teil unseres Lebens bildet, übersteigt.

Die Welt ist jedoch vergänglich. Wir selbst sind vergänglich, und alles, was uns umgibt, ist vergänglich. Die Menschen, die wir lieben, die Erfolge, die wir erzielen, die Güter, die wir genießen… es gibt nichts, das wir für immer behalten können. Wir würden die Dinge gern festhalten, sie immer bei uns haben, weil sie unser Leben verbessern, es bereichern, uns ergötzen. Doch am Grund unseres Bewusstseins nehmen wir wahr, dass sie vergänglich sind, uns nicht immer begleiten werden und dass sie uns gelegentlich ein Glück versprechen, das sie nur sehr beschränkt geben können. „Alles trägt das Siegel der Vergänglichkeit in sich, verborgen unter Verheißungen. Denn der Schrecken und die Schande der Dinge ist ihre Vergänglichkeit; und um diese schändliche Wunde zu verbergen und die Einfältigen zu täuschen, verkleiden sie sich mit farbigen Gewändern“1. Dieser Schatten, der auf allem Irdischen liegt, berührt uns tief, erschreckt uns, wenn wir darüber nachdenken, und weckt in uns den Wunsch, es möge nicht so sein. Wir suchen nach einem Ausweg, um zur Fülle zu gelangen. Das ist die Sehnsucht nach dem Heil im Herzen des Menschen.

Wir haben also zwei verschiedene Arten menschlicher Sehnsucht gefunden, die auf den „Hunger nach Transzendenz“ hinweisen, der den Menschen kennzeichnet. Angesichts der verschiedenen Erfahrungen des Guten erwacht in uns die Sehnsucht nach der Fülle (des Seins, der Wahrheit, des Guten, der Schönheit, der Liebe); und angesichts der verschiedenen Erfahrungen des Bösen erwacht in uns die Sehnsucht nach dem Heil (dem Weiterleben, der Rechtschaffenheit, der Gerechtigkeit, des Friedens). Es handelt sich um Erfahrungen der Transzendenz, die in uns eine Art Heimweh wecken. „Der Mensch ist geschaffen, um glücklich zu sein, wie der Vogel zum Fliegen“. Die Erfahrung lehrt aber, dass das Glück in dieser Welt nicht vollkommen ist, dass das Leben nie ganz befriedigt und dass es jenseits unserer Versuche liegt, es ganz zu erreichen. Wir erahnen es, aber wir erreichen es nie. Deshalb gibt es am Grund des menschlichen Geistes ein Unbehagen, ein Unbefriedigtsein, ein Verlangen nach Glück, das auf eine geheime Hoffnung hinweist: die Hoffnung auf ein Zuhause, auf ein definitives Vaterland, in dem sich der Traum eines ewigen Glücks, einer Liebe für immer erfüllt. Wir sind irdisch, aber wir sehnen uns nach dem Ewigen.

Dieser Wunsch begründet nicht aus sich selbst die natürliche Religiosität, ist aber wie ein „Hinweis“ auf Gott. Der Mensch ist von Natur aus ein religiöses Wesen, weil seine Erfahrung der Welt ihn spontan an ein Sein denken lässt, das Fundament aller Realität ist: das, „was alle Gott nennen“, wie der heilige Thomas zum Abschluss seiner berühmten fünf Wege des Zugangs zu Gott sagt (vgl. Summa Theologiae, I, q.2, a.8). Die Erkenntnis Gottes ist dem gesunden Menschenverstand möglich, also dem spontanen philosophischen Denken, das jeder aufgrund seiner persönlichen Lebenserfahrung entwickelt: angesichts der Schönheit und der Ordnung der Natur, beim Staunen über die ungeschuldete Gabe des Lebens, in der Freude, Liebe von anderen zu empfangen… All das führt dazu, an das „Mysterium“ zu denken, von dem all das stammt. Auch die verschiedenen Dimensionen des menschlichen Geisteslebens – etwa die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken; der kulturelle und technische Fortschritt; das Urteil über die Sittlichkeit der eigenen Handlungen – zeigen, dass der Mensch, zum Unterschied von den anderen körperlichen Wesen, den materiellen Kosmos übersteigt, und weisen auf ein höheres und transzendentes geistiges Wesen hin, das Grund für diese Fähigkeiten des Menschen ist.

Die Religion ist nicht, wie Ludwig Feuerbach dachte, eine Projektion der Subjektivität des Menschen und seines Wunsches nach Glück, sondern entspringt der spontanen Betrachtung der Wirklichkeit, so wie sie ist. Das erklärt die Tatsache, dass die Leugnung Gottes und der Versuch, ihn aus der Kultur und dem sozialen und zivilen Leben auszuschließen, relativ neue, auf einige Bereiche der westlichen Welt beschränkte Phänomene sind. Das Weiterbestehen der großen religiösen und existentiellen Fragen widerlegt die Vorstellung, dass die Religion einer „infantilen“ Periode der menschlichen Geschichte zuzuordnen ist und mit fortschreitender Erkenntnis verschwinden wird.

Die Feststellung, dass der Mensch von Natur aus ein religiöses Wesen ist, hat einige Philosophen und Theologen zur Vorstellung geführt, dass Gott ihn bei seiner Erschaffung bereits irgendwie auf jene Gabe vorbereitet hat, in der seine letzte und endgültige Berufung besteht: die Vereinigung mit Gott in Jesus Christus. Als Tertullian zum Beispiel feststellte, dass die Heiden seiner Zeit wie selbstverständlich „Gott ist groß“ und „Gott ist gut“ sagten, schloss er daraus, dass die menschliche Seele irgendwie auf den christlichen Glauben ausgerichtet ist, und so schrieb er in seinem Apologeticum (17,6): „Anima naturaliter christiana“2. Der heilige Thomas wiederum erkannte beim Nachdenken über unser letztes Ziel und die unbegrenzte Offenheit unseres Geistes, dass der Mensch das natürliche Verlangen hat, Gott zu schauen (Summa contra gentes, 3, 57, 4). Die Erfahrung zeigt freilich, dass wir diesen Wunsch nicht aus eigenen Kräften verwirklichen können. Er kann nur Erfüllung finden, wenn Gott sich offenbart und aus seinem Geheimnis heraustritt, wenn er selbst dem Menschen entgegenkommt und sich zeigt, wie er ist. Das aber ist der Gegenstand der Offenbarung. Der Katechismus der Katholischen Kirche hat einige dieser Ideen in Nr. 27 zusammengefasst: „Das Verlangen nach Gott ist dem Menschen ins Herz geschrieben, denn der Mensch ist von Gott und für Gott erschaffen. Gott hört nie auf, ihn an sich zu ziehen. Nur in Gott wird der Mensch die Wahrheit und das Glück finden, wonach er unablässig sucht“.

2. Die Gotteserkenntnis durch die Vernunft

Der menschliche Verstand kann die Existenz Gottes erkennen, indem er sich ihm auf einem Weg nähert, der von der geschaffenen Welt ausgeht. Dabei kann er zwei Routen einschlagen, indem er entweder von den materiellen Geschöpfen ausgeht (kosmologische Wege) oder von der menschlichen Person (anthropologische Wege).

Diese Wege zur Existenz Gottes sind keine „Beweise“ im Sinn der Mathematik oder der Naturwissenschaften, sondern konvergente philosophische Argumente, die je nach dem Grad der Bildung und der Bemühung dessen, der sich mit ihnen befasst, mehr oder weniger überzeugend sein werden (vgl. KKK, 31). Sie sind auch keine „Beweise“ im Sinn der experimentellen Wissenschaften (Physik, Biologie usw.), denn Gott ist nicht Gegenstand unserer empirischen Erkenntnis: Wir können ihn nicht beobachten wie einen Sonnenuntergang oder einen Sandsturm, um daraus Schlüsse zu ziehen.

Die kosmologischen Wege gehen von den materiellen Dingen aus. Ihre bekannteste Formulierung stammt vom heiligen Thomas von Aquin. Es sind die berühmten „fünf Wege“, die er ausgearbeitet hat. Synthetisch und vereinfachend können wir sie folgendermaßen zusammenfassen: Die beiden ersten legen dar, dass die Ursachenketten (Ursache-Wirkung), die wir in der Natur beobachten, nicht ins Unendliche fortgesetzt werden können, dass es also einen Ursprung, einen ersten Beweger und eine erste Ursache geben muss. Der dritte Weg geht davon aus, dass die Dinge, die wir in der Welt sehen, sein können oder nicht sein können, was aber nicht für die ganze Wirklichkeit gelten kann, weshalb es etwas oder jemanden geben muss, der notwendig existiert und nicht auch nicht existieren könnte, denn sonst würde nichts existieren. Der vierte Weg betrachtet, dass alle Wirklichkeiten, die wir kennen, gute Eigenschaften haben, und leitet daraus ab, dass ein Wesen existieren muss, das ihrer aller Quelle ist. Der fünfte und letzte Weg beobachtet die Ordnung und die Zweckmäßigkeit der Phänomene der Welt und schließt aus der Tatsache, dass sie Gesetzen unterliegen, auf eine ordnende Vernunft, auf die diese Gesetze zurückgehen und die auch die Zielursache von allem ist (vgl. Summa Theologiae, I, q.2).

Neben den Wegen, die vom Kosmos ihren Ausgang nehmen, gibt es solche anthropologischen Charakters. In ihnen setzt die Überlegung bei der menschlichen Person an. Diese Wege haben, in ihrer Gesamtheit betrachtet, mehr Überzeugungskraft als für sich allein genommen. Zum Teil haben wir uns schon auf sie bezogen. An erster Stelle steht das geistige Wesen des Menschen – gekennzeichnet durch seine Fähigkeit zu denken, durch seine Innerlichkeit und seine Freiheit –, das offensichtlich keine Grundlage in irgendeiner anderen Realität des Kosmos hat. Auch hätte im Menschen das unbefriedigte Verlangen nach Glück keinen wirklichen Sinn, wenn nicht ein Gott existiert, der ihm dieses Glück geben kann. Wir sehen ferner in der menschlichen Natur ein sittliches Gespür für Solidarität und Liebe, das dazu führt, sich den anderen zu öffnen und in sich selbst die Berufung zu erkennen, das Ich und seine egoistischen Interessen zu übersteigen. Man fragt sich, woher das kommt; warum der Mensch fähig ist, auf nicht-utilitaristische Weise zu handeln; warum er sich bewusst ist, dass einige Dinge seiner Würde entsprechen und andere nicht; warum er Schuld und Scham empfindet, wenn er Böses tut, dagegen Freude und Frieden, wenn er gerecht handelt; warum er in Entzücken gerät angesichts der Schönheit eines Sonnenuntergangs, des sternenklaren Himmels oder eines hervorragenden Kunstwerks. Nichts davon kann vernünftigerweise dem blinden Walten des Kosmos zugeschrieben werden, dem unpersönlichen Produkt materieller Wirkungen. Sind das nicht alles Zeichen eines unendlich guten, schönen und gerechten Wesens, das in uns einen Funken seines Seins gelegt hat und einen Widerschein dessen zeigt, was es für uns will? (Diese zweite Möglichkeit ist logischer und befriedigender.) – Diese Wege sind nicht unanfechtbar, enthalten aber für den, der schlicht die Wirklichkeit betrachtet, eine erhellende Logik.

Der Katechismus der Katholischen Kirche fasst sie folgendermaßen zusammen: „Mit seiner Offenheit für die Wahrheit und Schönheit, mit seinem Sinn für das sittlich Gute, mit seiner Freiheit und der Stimme seines Gewissens, mit seinem Verlangen nach Unendlichkeit und Glück fragt der Mensch nach dem Dasein Gottes. In all dem nimmt er Zeichen seiner Geist-Seele wahr. ’Da sich der Keim der Ewigkeit, den er in sich trägt, nicht auf bloße Materie zurückführen lässt’ (GeS 18,1), kann seine Seele ihren Ursprung nur in Gott haben“ (KKK 33).

Die verschiedenen philosophischen Argumente, die für den „Beweis“ der Existenz Gottes verwendet werden, bewirken nicht notwendig den Glauben an ihn; sie stellen nur sicher, dass dieser Glaube vernünftig ist. Im Grunde sagen sie uns sehr wenig über Gott und stützen sich häufig auf Überzeugungen, die nicht alle teilen. Zum Beispiel könnte in der heutigen Kultur eine wissenschaftlichere Kenntnis der Naturvorgänge gegen die kosmologischen Wege den Einwand erheben, dass im Universum zwar eine gewisse Ordnung, Schönheit und Finalität zutage tritt, dass es aber auch ein beachtliches Maß an Unordnung und Chaos aufweist, denn viele Phänomene scheinen zufällig und unkoordiniert aufzutreten, so dass sie Quellen kosmischer Tragödien sein können. Analog wird jemand, der die menschliche Person nur als ein etwas höher entwickeltes, triebbestimmtes Tier ansieht, die anthropologischen Wege, die sich auf die Sittlichkeit oder die Transzendenz des Geistes beziehen, nicht annehmen, da er den Sitz des geistigen Lebens (Geist, Gewissen, Seele) mit der Körperlichkeit der Organe des Gehirns und den neurologischen Abläufen identifiziert.

Auf diese Einwände kann man mit Argumenten antworten, die zeigen, dass die Unordnung und der Zufall einen Platz in der allgemeinen Finalität des Universums (und daher im schöpferischen Plan Gottes) haben können. Albert Einstein sagte, dass sich in den Naturgesetzen „eine so überlegene Vernunft offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist“3.

Analog dazu kann man auf der Ebene der Vernunft und der menschlichen Phänomenologie die Selbsttranszendenz der Person aufzeigen, den freien Willen, der den Entscheidungen zugrundliegt –auch wenn sie in einem gewissen Maß von der Natur abhängen und durch sie bedingt sind –, und die Unmöglichkeit, den Geist auf das Gehirn zu reduzieren. Deshalb stellt das Kompendium des Katechismus zurecht fest: „Ausgehend von der Schöpfung, das heißt von der Welt und der menschlichen Person, kann der Mensch mit der bloßen Vernunft Gott gewiss als Ursprung und Ziel aller Dinge und als höchstes Gut (…) erkennen.“ (Nr. 3). Um aber zu dieser Gewissheit zu gelangen, muss man komplizierte Aspekte der Realität verstehen, die viel Raum zur Diskussion lassen. Das erklärt, warum die rationalen Wege des Zugangs zu Gott häufig nicht wirklich überzeugend sind.

3. Merkmale des gegenwärtigen Transzendenzbezugs der Personen und der Gesellschaft

Trotz Globalisierung weisen die Einstellung zu Gott und die religiöse Sicht des Lebens in den verschiedenen Teilen der Welt beachtliche Unterschiede untereinander auf. Allgemein gesprochen ist die Bezugnahme zur Transzendenz – auch wenn sie in sehr verschiedenen religiösen und kulturellen Formen ausgedrückt wird – weiterhin ein wichtiger Aspekt des Lebens.

In diesem allgemeinen Panorama muss man die westliche Welt, und besonders Europa, ausnehmen, wo eine Reihe geschichtlicher und kultureller Faktoren eine verbreitete Haltung der Ablehnung oder der Gleichgültigkeit gegen Gott und das Christentum als die historisch vorherrschende Religion hervorgerufen haben. Man kann diesen Wandel mit dem Religionssoziologen Peter Berger zusammenfassen, indem man sagt, der christliche Glaube sei in der westlichen Gesellschaft ohne eine „Struktur der Plausibilität“ geblieben. Während es in vergangenen Epochen, um katholisch zu sein, genügte, sich treiben zu lassen, genügt in unseren Tagens, sich treiben zu lassen, um es nicht zu sein. Es kann den Anschein haben, dass das Verlangen nach Gott in der westlichen Gesellschaft verschwunden ist: „Für weite Bereiche der Gesellschaft ist Er nicht mehr der Erwartete, der Ersehnte, sondern eher eine Realität, die gleichgültig lässt, in Bezug auf die man nicht einmal die Mühe aufwenden soll, etwas zu sagen“4.

Für diesen Wandel gibt es viele Ursachen. Einerseits haben die großen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der letzten beiden Jahrhunderte der Menschheit viele Wohltaten gebracht, zugleich aber eine materialistische Mentalität gefördert, die die experimentellen Wissenschaften als einzige gültige Quelle vernünftiger Erkenntnis ansieht. Es hat sich eine Sicht der Welt verbreitet, für die nur Geltung hat, was der empirischen Verifizierung zugänglich ist, was man sehen und berühren kann. Sie reduziert den „Horizont der Rationalität“, weil sie – abgesehen von der Geringschätzung der nicht-naturwissenschaftlichen Formen der Erkenntnis (zum Beispiel des Vertrauens auf das, was andere uns sagen) – dazu führt, dass man sich nur für die Entwicklung von Instrumenten interessiert, die die Welt bequemer und angenehmer machen. Diese Entwicklung ist jedoch keine notwendige. Die Betrachtung der geheimnisvollen Schönheit und Großartigkeit der geschaffenen Welt führt nicht an sich zur Vergötzung der Wissenschaft, sondern im Gegenteil dazu, die Wunder, die Gott mit seiner Schöpfung vollbracht hat, zu bestaunen. Heute öffnen sich wie in der Vergangenheit viele Wissenschaftler weiterhin der Transzendenz, wenn sie die im Universum herrschende Vollkommenheit entdecken.

Ein zweiter Aspekt, der sich mit dem soeben beschriebenen verbindet, ist die Säkularisierung der Gesellschaft, also jener Prozess, durch den vieles, was früher mit religiösen Begriffen, Überzeugungen und Institutionen verbunden war, diese Dimension verloren hat und nun in rein menschlichen, sozialen und zivilen Begriffen beschrieben wird. Dieser Aspekt hängt mit dem zuvor erwähnten insoweit zusammen, als der wissenschaftliche Fortschritt zur Einsicht in die Ursachen vieler Naturphänomene (im Bereich der Gesundheit, der Lebensabläufe, der Humanwissenschaften) geführt hat, die man früher direkt mit dem Willen Gottes in Verbindung gebracht hat. In der Antike konnte zum Beispiel eine Pest als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen verstanden werden, während man sie heute als Folge von hygienischen Bedingungen, Lebensumständen usw. ansieht, die wir präzisieren und bestimmen können. An sich ist diese bessere Kenntnis der Realität etwas Gutes und hilft auch, unsere Vorstellung vom Wirken Gottes zu reinigen, denn Gott ist nicht eine Ursache mehr unter den Naturphänomenen. Gott gehört einer anderen Ebene an. Er antwortet auf die letzten Fragen, die wir Menschen uns stellen: nach dem Sinn des Lebens, der letzten Bestimmung jedes Einzelnen, nach dem Sinn der Freude und des Schmerzes usw. Die Wissenschaft kann auf dieser Ebene keine Erklärungen anbieten. Wenn die Menschen sich daher tiefere Fragen stellen, treten sie leicht in den Bereich ein, in dem Gott sich als unerlässlich erweist.

Ein anderer wichtiger Aspekt der Schwächung der Ausrichtung auf Gott in der heutigen westlichen Kultur ist mit der individualistischen Haltung verbunden, die die Denkweise insgesamt tief prägt. Diese Haltung ist eine der Früchte des Emanzipationsprozesses, der seit der Aufklärung (18. Jhdt.) mehr und mehr unsere Kultur charakterisiert. Dieser Prozess weist – wie die zuvor erwähnten – positive Aspekte auf, weil es der Würde des Menschen widerspricht, dass er unter religiösen oder sonstigen Vorwänden „entmündigt“ wird und sich gezwungen sieht, Entscheidungen im Namen von Lehren zu treffen, die man ihm aufdrängt, obwohl sie nicht evident sind. Es hat sich jedoch auch die Auffassung verbreitet, dass es besser ist, von niemandem abhängig zu sein und sich an niemanden zu binden, um jederzeit tun zu können, was einem beliebt. Wer hat nicht gelegentlich – vielleicht auf verschiedene Weise formuliert – die Aussage gehört, es sei das Wichtigste, dass man „authentisch ist“ und „sein eigenes Leben führt“? Diese Haltung hat zur Folge, in den Beziehungen utilitaristisch zu sein und daher Bindungen zu vermeiden, die die persönliche Spontaneität einschränken könnten. Es werden nur Beziehungen zugelassen, die Befriedigung gewähren.

Aus dieser Sicht ist eine ernsthafte Beziehung zu Gott lästig, weil man die Unterwerfung unter seine Gebote nicht als Befreiung vom eigenen Egoismus empfindet. Religion wird dann nur in dem Maß Platz haben, als sie Frieden, Gelassenheit, Wohlbefinden gewährt und nicht verpflichtet. Deshalb führt der Individualismus zu Formen einer oberflächlichen Religiosität mit wenigen Inhalten und Institutionen, die durch ein beachtliches Maß an Subjektivismus gekennzeichnet sind und je nach Bedarf geändert werden können. Die aktuelle Orientierung auf einige sehr „personalisierbare“ orientalische Praktiken ist ein Beweis dafür.

Man könnte andere Merkmale anführen, die für die heutige Mentalität der westlichen Gesellschaften typisch sind: der Kult der Neuheit und des Fortschritts, der Wunsch, starke Emotionen mit anderen zu teilen, die Vorherrschaft der Technologie bei der Arbeit, beim Eingehen von Beziehungen und bei der Erholung. All das hat ohne Zweifel starken Einfluss auf die Einstellung gegenüber der transzendenten Wirklichkeit und dem christlichen Gott. Gewiss gibt es auch viel Positives in diesen Entwicklungen: Die westlichen Gesellschaften haben eine lange Periode des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung erlebt; und sie haben ihren Mitgliedern mehr Anteil an diesen positiven Auswirkungen gewährt. In all dem liegt so manches Christliche. Dennoch ist evident, dass viele heute das Thema „Gott“ meiden und ihm nicht selten Gleichgültigkeit und Ablehnung entgegenbringen.

Angesichts einer solchen Gesellschaft, die das Transzendente ablehnt, wird der Christ nur überzeugen, wenn er in erster Linie durch das Beispiel seines eigenen Lebens evangelisiert. Zu Beginn haben wir daran erinnert, dass „der Mensch geschaffen ist, um glücklich zu sein, wie der Vogel zum Fliegen“. Das Glück ist mit der Liebe verbunden, und der Christ weiß durch den Glauben, dass es keine wahrere und reinere Liebe gibt als die Liebe Gottes zu uns, die sich am Kreuz Christi geoffenbart hat und in der Eucharistie mitteilt. Die einzige Weise, um einer Gesellschaft, die vor Gott flieht, zu zeigen, dass es sich lohnt, sich ihm zu verpflichten, besteht darin, dass der Christ in seinem eigenen Leben die Gegenwart dieser Liebe und dieses Glücks offenbart.

„Nicht alle Befriedigungen bringen dieselbe Wirkung hervor. Einige hinterlassen eine positive Spur, sind fähig, der Seele Frieden zu schenken, machen aktiver und großzügiger. Andere dagegen scheinen, nach einem anfänglichen Licht, die Hoffnungen, die sie geweckt haben, zu enttäuschen und hinterlassen dann Bitterkeit, Unzufriedenheit oder ein Gefühl der Leere“5. Das Glück jener, die nur an das glauben, was man sehen und berühren kann, die von einer utilitaristischen Sicht des Lebens beherrscht oder Individualisten sind, die sich an nichts binden wollen, ist vergänglich, es „dauert, solange es dauert“, und muss häufig erneuert werden, weil es nichts mehr hergibt. Oft ist es ein Glück, das die Personen nicht bessert. Menschen, die dagegen Jesus von Herzen dienen, führen ein anderes Leben und haben auch ein anderes, tieferes, dauerhafteres Glück, das in ihnen selbst und in den Mitmenschen Früchte bringt.

Es ist nicht überflüssig, die berühmte Stelle über das Leben der Christen in der Welt aus dem Brief an Diognet (2. Jh., Kap. V und VI) wieder zu lesen: „Die Christen unterscheiden sich nicht von den anderen Menschen, weder durch den Ort, an dem sie leben, noch durch ihre Sprache, noch durch ihre Gebräuche (…). Sie leben in Städten der Griechen und der Barbaren, wie es ihnen das Los beschieden hat, folgen den Gebräuchen der Bewohner des Landes, sowohl in Bezug auf die Kleidung wie im ganzen Leben; und dennoch geben sie Zeugnis eines bewundernswerten Lebens, das nach dem Urteil aller unglaublich ist. Sie wohnen zwar in ihrer Heimat, aber wie Zugereiste aus einem fremden Land; an allem haben sie teil wie Bürger, ertragen aber alles wie Fremde; jedes fremde Land ist für sie Heimat, sie sind aber in jeder Heimat wie in fremdem Land. Wie alle heiraten sie, zeugen Kinder, aber sie verstoßen nicht die Frucht ihres Leibes. Sie haben den Tisch gemeinsam, aber nicht das Bett. Sie leben im Fleisch, aber nicht nach dem Fleisch. Sie leben auf der Erde, aber ihre Heimat ist im Himmel. Sie gehorchen den Gesetzen, überbieten sie aber durch ihr eigenes Leben. Sie lieben alle, und alle verfolgen sie. Man kennt sie nicht, und doch verurteilt man sie. Sie werden getötet, erlangen aber dadurch das Leben. Sie sind arm und machen viele reich; sie leiden Mangel an allem und haben Überfluss an allem. Man schmäht sie, und es gereicht ihnen zur Ehre; sie werden gelästert, und das bezeugt ihre Gerechtigkeit. Sie werden beschimpft und segnen; sie werden verachtet, doch sie erweisen Ehre. Sie tun Gutes und werden als Übeltäter bestraft; und wenn sie die Todesstrafe erleiden, freuen sie sich, als würde man ihnen das Leben schenken. Die Juden bekämpfen sie wie Fremde, und die Heiden verfolgen sie; und dennoch, jene die sie verabscheuen, können den Grund für ihre Feindschaft nicht erklären. Um es mit wenigen Worten zu sagen: Die Christen sind in der Welt, was die Seele im Körper ist“.

Antonio Ducay

Grundlegende Bibliografie:

Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 27-49.

Franziskus, Enzyklika Laudato sí.

Benedikt XVI., „Das Jahr des Glaubens. Das Verlangen nach Gott“, Audienz, 7.11.2012.

Ders., „Das Jahr des Glaubens. Die Wege zur Erkenntnis Gottes“, Audienz, 14.11.2012.

Empfohlene Lektüre:

J. Burggraf, Grundlagen des katholischen Glaubens, Fassbaender, Wien 2008.


1 J.L. Lorda, La señal de la Cruz, Rialp, Madrid 2011, S. 65-66.

2 Die Seele ist von Natur aus christlich.

3 A. Einstein, Mein Weltbild. Hg. v, Carl Seelig. Ullstein Sachbuch 34683, 26. Aufl. Frankfurt/M., Berlin 1989.

4 Benedikt XVI., Audienz, 7.11.2012.

5 Ebd.

Antonio Ducay